Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Asylpolitik. Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist. Überstellung des Asylbewerbers in den für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat. Ermessensklausel. Rechtsbehelfe. Aufschiebende Wirkung
Normenkette
Verordnung (EU) Nr. 604/2013; Verordnung (EU) Nr. 604/2013 Art. 17 Abs. 1, Art. 27 Abs. 1, 3, Art. 29 Abs. 3; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 47
Beteiligte
Minister for Justice (Clause discrétionnaire – Recours) |
Tenor
1.Art. 27 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist,
ist dahin auszulegen, dass
er die Mitgliedstaaten nicht dazu verpflichtet, einen wirksamen Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung vorzusehen, die aufgrund der Ermessensklausel in Art. 17 Abs. 1 dieser Verordnung erlassen wurde.
2.–Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
er nicht auf eine Situation anwendbar ist, in der eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat und gegen die eine Überstellungsentscheidung ergangen ist, den Mitgliedstaat, der diese Entscheidung erlassen hat, ersucht hat, von seinem Ermessen nach Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 Gebrauch zu machen, oder einen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen die Bescheidung eines solchen Ersuchens eingelegt hat, so dass diese Bestimmung der Charta der Grundrechte einen Mitgliedstaat erst recht nicht daran hindert, unter diesen Umständen eine Überstellungsentscheidung durchzuführen, bevor über das Ersuchen oder einen Rechtsbehelf gegen seine Bescheidung entschieden wurde.
- –
- Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013
die darin genannte Frist von sechs Monaten für die Durchführung der Überstellung der Person, die internationalen Schutz beantragt hat, ab der Annahme des Gesuchs um Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person durch einen anderen Mitgliedstaat oder ab der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung oder über deren Überprüfung, wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 dieser Verordnung aufschiebende Wirkung hat, zu laufen beginnt und nicht ab dem Zeitpunkt der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf gegen die nach Erlass der Überstellungsentscheidung ergangene Entscheidung des ersuchenden Mitgliedstaats, nicht von der Ermessensklausel in Art. 17 Abs. 1 der genannten Verordnung Gebrauch zu machen, um den Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen.
Tatbestand
In der Rechtssache C-359/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom High Court (Hohes Gericht, Irland) mit Entscheidung vom 28. April 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Juni 2022, in dem Verfahren
AHY
gegen
Minister for Justice
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richter F. Biltgen, N. Wahl (Berichterstatter) und J. Passer sowie der Richterin M. L. Arastey Sahún,
Generalanwalt: P. Pikamäe,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von AHY, vertreten durch B. Burns, Solicitor, E. Dornan, BL, und C. Power, SC,
- – des Minister for Justice und Irlands, vertreten durch M. Browne, Chief State Solicitor, A. Joyce, M. Tierney und G. Wells als Bevollmächtigte im Beistand von S.-J. Hillery, BL, und D. Colan Smyth, SC,
- – der griechischen Regierung, vertreten durch M. Michelogiannaki als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Grønfeldt und J. Tomkin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. September 2023
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 17 Abs. 1 und Art. 27 Abs. 1 und 3 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31, im Folgenden: Dublin-III-Verordnung), sowie von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen AHY, einem somalischen Staatsangehörigen, und dem Minister for Justice (Justizministerin, Irland, im Folgenden: Ministerin) über deren Entscheidung, mit der sie es abgelehnt hat, ihr Ermessen nach Art. 17 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung auszuüben, um den Antrag von AHY auf internationalen Schutz zu prüfen, und angegeben hat, dass...