Entscheidungsstichwort (Thema)
Grenzgänger. Verordnung (EWG) Nr. 1612/68. Erziehungsgeld. Versagung. Soziale Vergünstigung. Wohnsitzvoraussetzung
Beteiligte
Tenor
Art. 7 Abs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft steht einer nationalen Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegen, die eine Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats, die in diesem Staat wohnt und im erstgenannten Mitgliedstaat eine geringfügige Beschäftigung (zwischen 3 und 14 Stunden je Woche) ausübt, vom Bezug einer sozialen Vergünstigung, wie des deutschen Erziehungsgelds, ausschließt, weil sie im erstgenannten Mitgliedstaat weder Wohnsitz noch gewöhnlichen Aufenthalt hat.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Bundessozialgericht (Deutschland) mit Entscheidung vom 10. Februar 2005, beim Gerichtshof eingegangen am 17. Mai 2005, in dem Verfahren
Wendy Geven
gegen
Land Nordrhein-Westfalen
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten P. Jann, C. W. A. Timmermans, A. Rosas, K. Lenaerts, P. Kūris und E. Juhász, der Richterin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter K. Schiemann (Berichterstatter), J. Makarczyk, G. Arestis, A. Borg Barthet und M. Ilešič,
Generalanwalt: L. A. Geelhoed,
Kanzler: R. Grass,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Frau Geven, vertreten durch M. Eppelein, Assessor,
- der deutschen Regierung, vertreten durch M. Lumma als Bevollmächtigten,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch C. Jackson als Bevollmächtigte im Beistand von E. Sharpston, QC,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch V. Kreuschitz als Bevollmächtigten,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 28. September 2006
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Geven und dem Land Nordrhein-Westfalen wegen dessen Weigerung, ihr Erziehungsgeld für ihr Kind zu zahlen.
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsrecht
3 Art. 7 Abs. 1 und 2 der Richtlinie Nr. 1612/68 lautet:
„(1) Ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, darf auf Grund seiner Staatsangehörigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten hinsichtlich der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, insbesondere im Hinblick auf Entlohnung, Kündigung und, falls er arbeitslos geworden ist, im Hinblick auf berufliche Wiedereingliederung oder Wiedereinstellung, nicht anders behandelt werden als die inländischen Arbeitnehmer.
(2) Er genießt dort die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer.”
Nationales Recht
4 Wie aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervorgeht, bestimmte § 1 Abs. 1 Bundeserziehungsgeldgesetz (BErzGG) in seiner für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung, dass Anspruch auf Erziehungsgeld hat, wer einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat, mit einem Kind, für das ihm die Personensorge zusteht, in einem Haushalt lebt, dieses Kind selbst betreut und erzieht und keine oder keine volle Erwerbstätigkeit ausübt.
5 Außerdem sah § 1 Abs. 4 BErzGG in der für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung vor, dass Angehörige eines Mitgliedstaats der Europäischen Gemeinschaften und Grenzgänger aus an Deutschland unmittelbar angrenzenden Staaten einen Anspruch auf Erziehungsgeld haben, sofern sie in Deutschland einer Erwerbstätigkeit nachgehen, die die Grenze der Geringfügigkeit übersteigt.
6 Gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 1 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IV) in seiner für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung (BGBl. I, 1229) liegt eine geringfügige Beschäftigung vor, wenn die Beschäftigung regelmäßig weniger als 15 Stunden in der Woche ausgeübt wird und das Arbeitsentgelt regelmäßig im Monat ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße im Sinne von § 18 SGB IV nicht übersteigt. Dieser Betrag belief sich 1997 auf 610 DM und 1998 auf 620 DM.
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
7 Frau Geven (im Folgenden auch: Klägerin) ist niederländische Staatsangehörige. Als ihr Sohn im Dezember 1997 geboren wurde, lebte sie mit ihrem Ehemann in den Niederlanden, wo dieser auch erwerbstätig war. Im Anschluss an den Mutterschutz war sie im ersten Lebensjahr des Kindes in Deutschland berufstätig, wobei ihre Wochenarbeitszeit zwischen 3 und 14 Stunden schwankte und ihr Wochenverdienst zwischen 40,00 DM und 168,87 DM lag.
8 Mit Bescheid vom 5. Juni 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. Januar 2000 lehnte das Land Nordrhein-Westfalen den Antrag von Frau Geven auf Gewährung von Erziehungsgeld für ihren Sohn ab. Es begründ...