Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Gemeinsame Politik im Bereich Asyl und subsidiärer Schutz. Gemeinsame Verfahren für die Zuerkennung des internationalen Schutzes. Umfassende Ex-nunc-Prüfung. Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf. Befugnisse und Pflichten des erstinstanzlichen Gerichts. Keine Befugnis zur Abänderung von Entscheidungen der zuständigen Behörden auf dem Gebiet des internationalen Schutzes. Nationale Regelung, die eine Verpflichtung zur Entscheidung innerhalb von 60 Tagen vorsieht
Normenkette
Richtlinie 2013/32/EU Art. 46 Abs. 3; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 47
Beteiligte
Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal |
Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal |
Tenor
1. Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes ist im Licht von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die den Gerichten nur die Befugnis verleiht, Entscheidungen der zuständigen Behörden auf dem Gebiet des internationalen Schutzes aufzuheben, nicht aber sie abzuändern. Im Fall der Zurückverweisung der Sache an die zuständige Verwaltungsbehörde ist jedoch binnen kurzer Frist eine neue Entscheidung zu erlassen, die im Einklang mit der im Aufhebungsurteil enthaltenen Würdigung steht. Wenn darüber hinaus ein nationales Gericht – nach einer umfassenden Ex-nunc-Prüfung aller von einem Antragsteller auf internationalen Schutz vorgebrachten maßgeblichen tatsächlichen und rechtlichen Umstände – entschieden hat, dass dem betreffenden Antragsteller nach den in der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes festgelegten Kriterien ein solcher Schutz aus den Gründen zuzuerkennen ist, auf die er oder sie seinen oder ihren Antrag gestützt hat, die Verwaltungsbehörde jedoch anschließend ohne festzustellen, dass neue Umstände vorliegen, die eine neue Beurteilung des Bedürfnisses des Antragstellers nach internationalem Schutz rechtfertigen, eine gegenteilige Entscheidung trifft, muss dieses Gericht, wenn das nationale Recht keine Mittel vorsieht, die es ihm ermöglichten, seinem Urteil Geltung zu verschaffen, diese Entscheidung, die seinem früheren Urteil nicht entspricht, abändern und sie im Hinblick auf den Antrag auf internationalen Schutz durch seine eigene Entscheidung ersetzen, wobei es die nationalen Rechtsvorschriften, die es an diesem Vorgehen hindern würden, gegebenenfalls unangewendet lassen muss.
2. Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 ist im Licht von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die dem Gericht, das mit einem Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung über die Ablehnung eines Antrags auf internationalen Schutz befasst ist, eine Frist von 60 Tagen für seine Entscheidung setzt, sofern dieses Gericht in der Lage ist, innerhalb dieser Frist die Wirksamkeit der materiell-rechtlichen Vorschriften und der dem Antragsteller durch das Unionsrecht gewährten Verfahrensgarantien sicherzustellen. Anderenfalls ist dieses Gericht verpflichtet, die nationale Regelung, mit der die Entscheidungsfrist festgesetzt wird, unangewendet zu lassen und, wenn diese Frist abgelaufen ist, sein Urteil so rasch wie möglich zu erlassen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Hauptstädtisches Verwaltungs- und Arbeitsgericht, Ungarn) mit Entscheidung vom 4. Juni 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 20. Juni 2018, in dem Verfahren
PG
gegen
Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot (Berichterstatter), der Vizepräsidentin des Gerichtshofs R. Silva de Lapuerta in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Ersten Kammer, der Richter M. Safjan und L. Bay Larsen sowie der Richterin C. Toader,
Generalanwalt: M. Bobek,
Kanzler: I. Illéssy, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. September 2019,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von PG, vertreten durch Sz. M. Sánta, ügyvéd,
- der ungarischen Regierung, vertreten zunächst durch M. Z. Fehér, G. Tornyai und M. M. Tátrai, dann durch M. Z. Fehér und M. M. Tátrai als Bevollmächtigte,
- der deutschen Regierung, vertreten zunächst durch T. Henze und R. Kanitz, dann durch T. Kanitz als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande, A. Tokár und J. Tomkin als Bevollmächtigte,
nach Anh...