Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Eilvorabentscheidungsverfahren. Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Europäischer Haftbefehl. Rahmenbeschluss 2002/584/JI. Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung. Haftbefehl, der von den Justizbehörden eines Mitgliedstaats ausgestellt wird, der das Verfahren zum Austritt aus der Europäischen Union in Gang gesetzt hat. Ungewissheit hinsichtlich der für die Beziehungen zwischen diesem Mitgliedstaat und der Union nach dem Austritt geltenden Regelung
Normenkette
EUV Art. 50
Beteiligte
Tenor
Art. 50 EUV ist dahin auszulegen, dass die bloße Mitteilung eines Mitgliedstaats über seine Absicht, gemäß diesem Artikel aus der Europäischen Union auszutreten, nicht zur Folge hat, dass dann, wenn dieser Mitgliedstaat einen Europäischen Haftbefehl gegen jemanden ausstellt, der Vollstreckungsmitgliedstaat die Vollstreckung dieses Europäischen Haftbefehls verweigern oder vertagen muss, bis nähere Angaben über die rechtlichen Regelungen vorliegen, die im Ausstellungsmitgliedstaat nach seinem Austritt aus der Europäischen Union gelten werden. Liegen keine ernsthaften und durch Tatsachen bestätigten Gründe für die Annahme vor, dass die Person, gegen die dieser Europäische Haftbefehl ergangen ist, nach dem Austritt des Ausstellungsmitgliedstaats aus der Europäischen Union der Gefahr ausgesetzt ist, dass ihr die von der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und dem Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung zuerkannten Rechte genommen werden, kann der Vollstreckungsmitgliedstaat die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls nicht verweigern, solange der Ausstellungsmitgliedstaat der Europäischen Union angehört.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom High Court (Hoher Gerichtshof, Irland) mit Entscheidung vom 17. Mai 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 18. Mai 2018, in dem Verfahren wegen der Vollstreckung von Europäischen Haftbefehlen gegen
RO
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter C. G. Fernlund (Berichterstatter), A. Arabadjiev, S. Rodin und E. Regan,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des Antrags des vorlegenden Gerichts vom 17. Mai 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 18. Mai 2018, das Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs dem Eilverfahren zu unterwerfen,
aufgrund der Entscheidung der Ersten Kammer vom 11. Juni 2018, diesem Antrag stattzugeben,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. Juli 2018,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von RO, vertreten durch E. Martin-Vignerte und J. MacGuill, Solicitors, C. Cumming, BL, und P. McGrath, SC,
- des Minister for Justice and Equality, vertreten durch M. Browne, G. Hodge, A. Joyce und G. Lynch als Bevollmächtigte im Beistand von E. Duffy, BL, und R. Barron, SC,
- der rumänischen Regierung, vertreten durch L. Liţu und C. Canţăr als Bevollmächtigte,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Brandon und C. Brodie als Bevollmächtigte im Beistand von J. Holmes, QC, und D. Blundell, Barrister,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid, R. Troosters und M. Wilderspin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. August 2018
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 50 EUV und des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen der Vollstreckung zweier von den Gerichten des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland gegen RO erlassener Europäischer Haftbefehle in Irland.
Rechtlicher Rahmen
EU-Vertrag
Rz. 3
Art. 50 Abs. 1 bis 3 EUV lautet:
„(1) Jeder Mitgliedstaat kann im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen, aus der Union auszutreten.
(2) Ein Mitgliedstaat, der auszutreten beschließt, teilt dem Europäischen Rat seine Absicht mit. Auf der Grundlage der Leitlinien des Europäischen Rates handelt die Union mit diesem Staat ein Abkommen über die Einzelheiten des Austritts aus und schließt das Abkommen, wobei der Rahmen für die künftigen Beziehungen dieses Staates zur Union berücksichtigt wird. Das Abkommen wird nach Artikel 218 Absatz 3 [AEUV] ausgehandelt. Es wird vom Rat im Namen der Union geschlossen; der Rat beschließt mit qualifizierter Mehrheit nach Zustimmung des Euro...