Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Wettbewerbspolitik. Internationaler Frachtverkehrssektor. Nationale Wettbewerbsbehörden. Rechtlicher Stellenwert der Instrumente des Europäischen Wettbewerbsnetzes. Kronzeugenregelungsmodell dieses Netzes. Bei der Kommission gestellter Antrag auf Erlass der Geldbuße. Bei nationalen Wettbewerbsbehörden gestellter Kurzantrag auf Erlass der Geldbuße. Verhältnis zwischen diesen beiden Anträgen
Normenkette
AEUV Art. 101; Verordnung (EG) Nr. 1/2003
Beteiligte
DHL Express (Italy) und DHL Global Forwarding (Italy) |
DHL Global Forwarding (Italy) SpA |
Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato |
Tenor
1. Die Bestimmungen des Unionsrechts, insbesondere Art. 101 AEUV und die Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101 AEUV] und [102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln, sind dahin auszulegen, dass die im Rahmen des Europäischen Wettbewerbsnetzes beschlossenen Instrumente, insbesondere das Kronzeugenregelungsmodell dieses Netzes, für die nationalen Wettbewerbsbehörden nicht verbindlich sind.
2. Die Bestimmungen des Unionsrechts, insbesondere Art. 101 AEUV und die Verordnung Nr. 1/2003, sind dahin auszulegen, dass zwischen dem Antrag auf Erlass der Geldbuße, den ein Unternehmen bei der Europäischen Kommission eingereicht hat oder im Begriff ist einzureichen, und dem für dasselbe Kartell bei einer nationalen Wettbewerbsbehörde eingereichten Kurzantrag kein rechtlicher Zusammenhang besteht, der diese Behörde verpflichtet, den Kurzantrag im Licht des Antrags auf Erlass der Geldbuße zu beurteilen. Ob der Kurzantrag dem bei der Kommission gestellten Antrag inhaltlich genau entspricht oder nicht, ist hierbei ohne Belang.
Ist der inhaltliche Umfang des bei einer nationalen Wettbewerbsbehörde gestellten Kurzantrags enger als der des bei der Kommission gestellten Antrags auf Erlass der Geldbuße, so ist diese nationale Behörde nicht verpflichtet, die Kommission oder das Unternehmen selbst zu kontaktieren, um sich zu vergewissern, ob dieses Unternehmen das Vorliegen konkreter Beispiele für rechtswidrige Verhaltensweisen auf dem Sektor festgestellt hat, der angeblich vom Antrag auf Erlass der Geldbuße, nicht aber vom Kurzantrag umfasst ist.
3. Die Bestimmungen des Unionsrechts, insbesondere Art. 101 AEUV und die Verordnung Nr. 1/2003, sind dahin auszulegen, dass sie eine nationale Wettbewerbsbehörde nicht daran hindern, unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens einen Kurzantrag auf Erlass der Geldbuße eines Unternehmens entgegenzunehmen, das bei der Kommission keinen Antrag auf vollständigen Erlass, sondern auf Ermäßigung der Geldbuße gestellt hat.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) mit Entscheidung vom 1. April 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 18. September 2014, in dem Verfahren
DHL Express (Italy) Srl,
DHL Global Forwarding (Italy) SpA
gegen
Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato,
Beteiligte:
Schenker Italiana SpA,
Agility Logistics Srl,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin der Ersten Kammer R. Silva de Lapuerta in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Zweiten Kammer sowie der Richter J. L. da Cruz Vilaça (Berichterstatter), A. Arabadjiev, C. Lycourgos und J.-C. Bonichot,
Generalanwalt: M. Wathelet,
Kanzler: V. Giacobbo-Peyronnel, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 9. Juli 2015,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der DHL Express (Italy) Srl und der DHL Global Forwarding (Italy) SpA, vertreten durch M. Siragusa und G. Rizza, avvocati,
- der Schenker Italiana SpA, vertreten durch G. L. Zampa, G. Barone und A. Di Giò, avvocati,
- der Agility Logistics Srl, vertreten durch A. Lirosi, M. Padellaro und A. Pera, avvocati,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Fiorentino und P. Gentili, avvocati dello Stato,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und A. Lippstreu als Bevollmächtigte,
- der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas und J. Bousin als Bevollmächtigte,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer als Bevollmächtigte,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch V. Kaye als Bevollmächtigte im Beistand von D. Beard, QC, und V. Wakefield, Barrister,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Malferrari, G. Meeßen und T. Vecchi als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 10. September 2015
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 101 AEUV, Art. 4 Abs. 3 EUV sowie Art. 11 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101 AEUV] und [102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1).
Rz. 2
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