Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Wettbewerb. Von zwei nationalen Wettbewerbsbehörden verfolgtes Kartell. Grundsatz ne bis in idem. Vorliegen derselben Straftat. Einschränkungen des Grundsatzes ne bis in idem. Voraussetzungen. Verfolgung einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung. Verhältnismäßigkeit
Normenkette
AEUV Art. 101; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 50, 52 Abs. 1
Beteiligte
Tenor
1. Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er es nicht verwehrt, dass ein Unternehmen von der Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats wegen eines Verhaltens, das im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats einen wettbewerbswidrigen Zweck verfolgte oder eine wettbewerbswidrige Wirkung hatte, wegen Verstoßes gegen Art. 101 AEUV und die entsprechenden Bestimmungen des nationalen Wettbewerbsrechts verfolgt und gegebenenfalls mit einer Geldbuße belegt wird, obwohl dieses Verhalten bereits von einer Wettbewerbsbehörde eines anderen Mitgliedstaats in einer endgültigen Entscheidung erwähnt wurde, die sie in Bezug auf dieses Unternehmen am Ende eines Verfahrens wegen Verstoßes gegen Art. 101 AEUV und die entsprechenden Bestimmungen des Wettbewerbsrechts dieses anderen Mitgliedstaats erlassen hat, sofern diese Entscheidung nicht auf der Feststellung eines wettbewerbswidrigen Zwecks oder einer wettbewerbswidrigen Wirkung im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats beruht.
2. Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass ein Verfahren zur Durchsetzung des Wettbewerbsrechts, in dem wegen der Teilnahme des betroffenen Beteiligten am nationalen Kronzeugenprogramm ein Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht lediglich festgestellt werden kann, dem Grundsatzne bis in idemunterliegen kann.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Obersten Gerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 12. März 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 27. März 2020, in dem Verfahren
Bundeswettbewerbsbehörde
gegen
Nordzucker AG,
Südzucker AG,
Agrana Zucker GmbH
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe (Berichterstatterin), der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, E. Regan und N. Jääskinen, der Kammerpräsidentin I. Ziemele, des Kammerpräsidenten J. Passer sowie der Richter M. Ilešič, T. von Danwitz, A. Kumin und N. Wahl,
Generalanwalt: M. Bobek,
Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. März 2021,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Bundeswettbewerbsbehörde, vertreten durch N. Harsdorf Enderndorf, B. Krauskopf und A. Xeniadis als Bevollmächtigte,
- der Südzucker AG, vertreten durch Rechtsanwälte C. von Köckritz, W. Bosch und A. Fritzsche,
- der Agrana Zucker GmbH, vertreten durch Rechtsanwälte H. Wollmann, C. von Köckritz, W. Bosch und A. Fritzsche,
- der belgischen Regierung, vertreten durch J.-C. Halleux und L. Van den Broeck als Bevollmächtigte im Beistand von P. Vernet und E. de Lophem, avocats,
- der deutschen Regierung, zunächst vertreten durch J. Möller und S. Heimerl, dann durch J. Möller als Bevollmächtigte,
- der griechischen Regierung, vertreten durch L. Kotroni als Bevollmächtigte,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Fiorentino, avvocato dello Stato,
- der lettischen Regierung, vertreten durch K. Pommere als Bevollmächtigte,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und M. Wiącek als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Keidel, G. Meessen, P. Rossi, H. van Vliet, A. Cleenewerck de Crayencour und F. van Schaik als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 2. September 2021
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Bundeswettbewerbsbehörde (Österreich) (im Folgenden: österreichische Behörde) einerseits und der Nordzucker AG, der Südzucker AG und der Agrana Zucker GmbH (im Folgenden: Agrana) andererseits wegen deren Beteiligung an einer gegen Art. 101 AEUV und die entsprechenden Bestimmungen des österreichischen Wettbewerbsrechts verstoßenden Verhaltensweise.
Rechtlicher Rahmen
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 6 und 8 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101 AEUV] und [102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1) heißt es:
„(6) Die wirksame Anwendung der Wettbewerbsregeln der [Union] setzt voraus, dass die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten stärker an der Anwendung beteili...