Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Wettbewerb. Postdienste. Von einem Anbieter von Universaldienstleistungen eingeführtes Tarifsystem. Von einer nationalen Regulierungsbehörde für den Postsektor verhängte Geldbuße. Von einer nationalen Wettbewerbsbehörde verhängte Geldbuße. Grundsatz ne bis in idem. Vorliegen derselben Straftat. Einschränkungen des Grundsatzes ne bis in idem. Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen. Voraussetzungen. Verfolgung einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung. Verhältnismäßigkeit
Normenkette
Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 50, 52 Abs. 1
Beteiligte
Autorité belge de la concurrence |
Tenor
Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in Verbindung mit deren Art. 52 Abs. 1 ist dahin auszulegen, dass er der Verhängung einer Geldbuße gegen eine juristische Person wegen eines Verstoßes gegen das Wettbewerbsrecht der Union nicht entgegensteht, wenn gegen diese Person im Hinblick auf denselben Sachverhalt am Ende eines Verfahrens wegen eines Verstoßes gegen eine sektorspezifische Regelung über die Liberalisierung des betreffenden Marktes bereits eine endgültige Entscheidung ergangen ist, sofern es klare und präzise Regeln gibt, anhand deren sich vorhersehen lässt, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen in Frage kommt, und die eine Koordinierung zwischen den beiden zuständigen Behörden ermöglichen, sofern die beiden Verfahren in hinreichend koordinierter Weise und in engem zeitlichen Zusammenhang geführt wurden und sofern die Gesamtheit der verhängten Sanktionen der Schwere der begangenen Straftaten entspricht.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour d'appel de Bruxelles (Appellationshof Brüssel, Belgien) mit Entscheidung vom 19. Februar 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 3. März 2020, in dem Verfahren
bpost SA
gegen
Autorité belge de la concurrence,
Beteiligte:
Publimail SA,
Europäische Kommission,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe (Berichterstatterin), der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, E. Regan und N. Jääskinen, der Kammerpräsidentin I. Ziemele, des Kammerpräsidenten J. Passer sowie der Richter M. Ilešič, T. von Danwitz, A. Kumin und N. Wahl,
Generalanwalt: M. Bobek,
Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. März 2021,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der bpost SA, vertreten durch J. Bocken, S. Gnedasj, K. Verbouwe und S. Mathieu, Avocats,
- der belgischen Regierung, vertreten durch J.-C. Halleux, L. Van den Broeck und C. Pochet als Bevollmächtigte im Beistand von P. Vernet und E. de Lophem, Avocats,
- der deutschen Regierung, zunächst vertreten durch J. Möller und S. Heimerl als Bevollmächtigte, dann durch J. Möller als Bevollmächtigten,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und I. Gavrilova als Bevollmächtigte,
- der griechischen Regierung, vertreten durch L. Kotroni als Bevollmächtigte,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von F. Meloncelli, Avvocato dello Stato,
- der lettischen Regierung, zunächst vertreten durch K. Pommere und V. Kalniņa, dann durch K. Pommere als Bevollmächtigte,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und M. Wiacek als Bevollmächtigte,
- der rumänischen Regierung, vertreten durch E. Gane, R. I. Haţieganu und A. Wellman als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch H. van Vliet, P. Rossi, A. Cleenewerck de Crayencour und F. van Schaik als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 2. September 2021
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der bpost SA und der Autorité belge de la concurrence (Belgische Wettbewerbsbehörde), der Rechtsnachfolgerin des Conseil de la concurrence (Wettbewerbsrat) (im Folgenden zusammen: Wettbewerbsbehörde), über die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung, mit der bpost wegen Missbrauchs einer beherrschenden Stellung eine Geldbuße auferlegt wurde (im Folgenden: Entscheidung der Wettbewerbsbehörde).
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Mit der Richtlinie 97/67/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Dezember 1997 über gemeinsame Vorschriften für die Entwicklung des Binnenmarktes der Postdienste der Gemeinschaft und die Verbesserung der Dienstequalität (ABl. 1998, L 15, S. 14) in der durch die Richtlinie 2008/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Februar 2008 (ABl. 2008, L 52, S. 3) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 97/67) soll der Mar...