Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats. Aufenthaltsrecht. Richtlinien 90/364/EWG und 90/365/EWG des Rates. Vertragsverletzungsverfahren. Vorverfahren. Gegenstand. Mit Gründen versehene Stellungnahme. Inhalt. Durchführung durch die Mitgliedstaaten. Umsetzung einer Richtlinie ohne Tätigwerden des Gesetzgebers. Voraussetzungen. Bestehen eines allgemeinen rechtlichen Kontextes, der die vollständige Anwendung der Richtlinie gewährleistet. Unzulänglichkeit einer blossen allgemeinen Verweisung auf das Gemeinschaftsrecht. Handlungen der Organe. Richtlinien. Recht des einzelnen, sich unter besonderen Umständen auf Richtlinien zu berufen. Rechtsfolge, die die Mitgliedstaaten nicht ihrer Verpflichtung zur Durchführung der Richtlinien enthebt. Mitgliedstaaten. Verpflichtungen. Durchführung der Richtlinien. Verstoß. Durchführung durch Rundschreiben. Unzulässigkeit
Leitsatz (amtlich)
Im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens soll das Vorverfahren dem betroffenen Mitgliedstaat Gelegenheit geben, sowohl seinen gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen als auch seine Verteidigungsmittel gegenüber den Rügen der Kommission wirkungsvoll geltend zu machen.
Der Gegenstand einer Klage nach Artikel 169 des Vertrages wird folglich durch das in dieser Bestimmung vorgesehene Vorverfahren eingegrenzt. Daher kann die Klage nicht auf andere als die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme angeführten Rügen gestützt werden; diese muß eine zusammenhängende und ausführliche Darstellung der Gründe enthalten, die die Kommission zu der Überzeugung geführt haben, daß der betreffende Staat gegen eine seiner Verpflichtungen aus dem Vertrag verstossen hat.
Die Umsetzung einer Richtlinie in innerstaatliches Recht verlangt nicht notwendig, daß ihre Bestimmungen förmlich und wörtlich in einer ausdrücklichen, besonderen Gesetzesvorschrift wiedergegeben werden; je nach dem Inhalt der Richtlinie kann ein allgemeiner rechtlicher Rahmen genügen, wenn er tatsächlich die vollständige Anwendung der Richtlinie in so klarer und bestimmter Weise gewährleistet, daß – soweit die Richtlinie Ansprüche des einzelnen begründen soll – die Begünstigten in der Lage sind, von allen ihren Rechten Kenntnis zu erlangen und diese gegebenenfalls vor den nationalen Gerichten geltend zu machen. Diese Voraussetzung ist besonders wichtig, wenn die Richtlinie darauf abzielt, den Angehörigen anderer Mitgliedstaaten Rechte zu verleihen.
Eine blosse allgemeine Verweisung der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats auf das Gemeinschaftsrecht stellt dabei keine Umsetzung dar, die die vollständige Anwendung von Richtlinien, die darauf abzielen, den Angehörigen anderer Mitgliedstaaten Rechte zu verleihen, tatsächlich in hinreichend klarer und bestimmter Weise gewährleistet.
Das Recht des einzelnen, sich unter besonderen Umständen vor Gericht gegenüber einem Mitgliedstaat auf eine Richtlinie zu berufen, stellt nur eine Mindestgarantie dar, die sich aus dem zwingenden Charakter der Verpflichtung ergibt, die den Mitgliedstaaten nach Artikel 189 Absatz 3 des Vertrages durch die Richtlinien auferlegt ist, und die keinem Mitgliedstaat als Rechtfertigung dafür dienen kann, daß er es versäumt hat, rechtzeitig zur Erreichung des Zieles der jeweiligen Richtlinie geeignete Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen.
Ein Mitgliedstaat kann seinen Verpflichtungen aus einer Richtlinie nicht durch ein einfaches Rundschreiben, das die Verwaltung beliebig ändern kann, nachkommen.
Normenkette
EGVtr Art. 169, 189 Abs. 3
Beteiligte
Kommission der Europäischen Gemeinschaften |
Bundesrepublik Deutschland |
Tenor
1. Die Bundesrepublik Deutschland hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 5 der Richtlinie 90/364/EWG des Rates vom 28. Juni 1990 über das Aufenthaltsrecht und aus Artikel 5 der Richtlinie 90/365/EWG des Rates vom 28. Juni 1990 über das Aufenthaltsrecht der aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Arbeitnehmer und selbständig Erwerbstätigen verstossen, daß sie nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen hat, um diese beiden Richtlinien in das innerstaatliche Recht umzusetzen.
2. Die Bundesrepublik Deutschland trägt die Kosten des Verfahrens.
Gründe
1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 24. März 1995 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EG-Vertrag Klage erhoben auf Feststellung, daß die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus dem EG-Vertrag verstossen hat, daß sie nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen hat, um die Richtlinie 90/365/EWG des Rates vom 28. Juni 1990 über das Aufenthaltsrecht der aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Arbeitnehmer und selbständig Erwerbstätigen (ABl. L 180, S. 28) und die Richtlinie 90/364/EWG des Rates vom 28. Juni 1990 über das Aufenthaltsrecht (ABl. L 180, S. 26) in innerstaatliches Recht umzusetzen, und – hilf...