Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Verkehr. Straßenverkehr. Führerschein. Voraussetzungen für die Erteilung oder Erneuerung. Mindestanforderungen an die körperliche und geistige Tauglichkeit. Sehvermögen. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Person, die die Gesichtsfeldanforderung nicht erfüllt. Befürwortendes Gutachten über die Fahrtauglichkeit, das von medizinischen Sachverständigen abgegeben wird. Ermessensspielraum im Einzelfall, für den es keine ausdrückliche Ausnahme gibt
Normenkette
Richtlinie 2006/126/EG; Richtlinie 2006/126/EG Anhang III Nr. 6.4
Beteiligte
Directie van het Centraal Bureau Rijvaardigheidsbewijzen (CBR) |
Tenor
Nr. 6.4 des Anhangs III der Richtlinie 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über den Führerschein in der durch die Richtlinie 2009/113/EG der Kommission vom 25. August 2009 geänderten Fassung ist im Licht des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und von Art. 15 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
dahin auszulegen, dass
es danach in einem konkreten Fall einer Person, die dem darin vorgesehenen Erfordernis, dass bei Fahrzeugführern der Gruppe 2, d. h. den Führern von Fahrzeugen der Klassen C, CE, C1, C1E, D, DE, D1 und D1E, das horizontale Gesichtsfeld mit beiden Augen mindestens 160° betragen sollte, aus medizinischer Sicht nicht entspricht, verwehrt ist, möglicherweise als diesem Erfordernis entsprechend angesehen zu werden, wenn sie nach Ansicht mehrerer medizinischer Sachverständiger tatsächlich tauglich ist, ein Kraftfahrzeug zu führen, das in eine dieser Klassen fällt.
Tatbestand
In der Rechtssache C-703/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad van State (Staatsrat, Niederlande) mit Entscheidung vom 16. November 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 16. November 2022, in dem Verfahren
WU
gegen
Directie van het Centraal Bureau Rijvaardigheidsbewijzen (CBR)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Piçarra sowie der Richter N. Jääskinen (Berichterstatter) und M. Gavalec,
Generalanwalt: P. Pikamäe,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und H. S. Gijzen als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Nijenhuis, P. Messina und G. Wilms als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Nr. 6.4 des Anhangs III der Richtlinie 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über den Führerschein (ABl. 2006, L 403, S. 18) in der durch die Richtlinie 2009/113/EG der Kommission vom 25. August 2009 (ABl. 2009, L 223, S. 31) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2006/126).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen WU und der Directie van het Centraal Bureau Rijvaardigheidsbewijzen (CBR) (Direktion des Zentralen Führerscheinamts, Niederlande) wegen deren Entscheidungen, mit denen ein im Rahmen der Erneuerung des Führerscheins von WU gestellter Antrag auf Feststellung der körperlichen und geistigen Tauglichkeit von WU für das Führen eines Kraftfahrzeugs, insbesondere von Fahrzeugen der Klassen C und CE, abgelehnt und die Erteilung einer anderen, geografisch auf die Niederlande beschränkten Fahrerlaubnis abgelehnt wurde.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Die Erwägungsgründe 8 und 9 der Richtlinie 2006/126 lauten:
„(8) Aus Gründen der Straßenverkehrssicherheit sollten die Mindestvoraussetzungen für die Erteilung einer Fahrerlaubnis festgelegt werden. Die Normen für die von den Fahrern abzulegenden Prüfungen und für die Erteilung der Fahrerlaubnis müssen harmonisiert werden. Zu diesem Zweck sollten die Kenntnisse, Fähigkeiten und Verhaltensweisen im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs festgelegt werden, die Fahrprüfung sollte auf diesen Konzepten beruhen, und die Mindestanforderungen an die körperliche und geistige Tauglichkeit zum Führen dieser Fahrzeuge sollten neu festgelegt werden.
(9) Der Nachweis der Einhaltung der Mindestanforderungen an die körperliche und geistige Tauglichkeit zum Führen eines Kraftfahrzeugs durch Fahrer von Fahrzeugen zur Personen- oder Güterbeförderung sollte zum Zeitpunkt der Ausstellung des Führerscheins und danach in regelmäßigen Abständen erbracht werden. Diese regelmäßige Überprüfung der Einhaltung der Mindestanforderungen gemäß den nationalen Vorschriften wird zur Verwirklichung der Freizügigkeit, zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen und zur besseren Berücksichtigung der besonderen Verantwortung der Fahrer dieser Fahrzeuge beitragen. Die Mitgliedstaaten sollten die Möglichkeit haben, ärztliche Untersuchungen vorzuschreiben, um die Einhaltung der Mindestanforderungen a...