Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Haftung für fehlerhafte Produkte. Arzneimittelhersteller. Impfstoff gegen Hepatitis B. Multiple Sklerose. Beweise für einen Fehler des Impfstoffs und für den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Fehler und dem erlittenen Schaden. Beweislast. Art und Weise der Beweisführung. Fehlen eines wissenschaftlichen Konsenses. Der Würdigung des Tatsachengerichts überlassene ernsthafte, klare und übereinstimmende Indizien. Zulässigkeit. Voraussetzungen

 

Normenkette

Richtlinie 85/374/EWG Art. 4

 

Beteiligte

W u.a

N. W

L. W

C. W

Caisse primaire d'assurance maladie des Hauts-de-Seine

Sanofi Pasteur MSD SNC

Carpimko

 

Tenor

1. Art. 4 der Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25. Juli 1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Beweisregelung wie der des Ausgangsverfahrens nicht entgegensteht, wonach das Tatsachengericht, wenn es wegen des behaupteten Fehlers eines Impfstoffs mit einer Haftungsklage gegen dessen Hersteller befasst ist, in Ausübung seiner Befugnis zur Beweiswürdigung annehmen kann, dass trotz der Feststellung, dass ein Zusammenhang zwischen der Verabreichung des betreffenden Impfstoffs und dem Auftreten der Krankheit, an der der Geschädigte leidet, in der medizinischen Forschung weder nachgewiesen noch widerlegt ist, bestimmte vom Kläger geltend gemachte Tatsachen ernsthafte, klare und übereinstimmende Indizien darstellen, die den Schluss auf das Vorliegen eines Fehlers des Impfstoffs sowie auf einen ursächlichen Zusammenhang zwischen diesem Fehler und der Krankheit zulassen. Die nationalen Gerichte haben gleichwohl dafür Sorge zu tragen, dass die von ihnen vorgenommene konkrete Anwendung dieser Beweisregelung weder zur Missachtung der mit Art. 4 eingeführten Beweislast noch zu einer Beeinträchtigung der Wirksamkeit der mit der Richtlinie eingeführten Haftungsregelung führt.

2. Art. 4 der Richtlinie 85/374 ist dahin auszulegen, dass er einer auf Vermutungen beruhenden Beweisregelung entgegensteht, wonach dann, wenn in der medizinischen Forschung ein Zusammenhang zwischen der Verabreichung des Impfstoffs und dem Auftreten der Krankheit, an der der Geschädigte leidet, weder nachgewiesen noch widerlegt ist, ein Ursachenzusammenhang zwischen dem Fehler, der einem Impfstoff zugeschrieben wird, und dem Schaden, den der Geschädigte erlitten hat, stets als bewiesen anzusehen wäre, wenn bestimmte im Voraus festgelegte tatsächliche Indizien für eine Ursächlichkeit vorliegen.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) mit Entscheidung vom 12. November 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 23. November 2015, in dem Verfahren

N. W,

L. W,

C. W

gegen

Sanofi Pasteur MSD SNC,

Caisse primaire d'assurance maladie des Hauts-de-Seine,

Carpimko

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, der Richterin A. Prechal (Berichterstatterin), des Richters A. Rosas sowie der Richterin C. Toader und des Richters E. Jarašiūnas,

Generalanwalt: M. Bobek,

Kanzler: V. Giacobbo-Peyronnel, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 23. November 2016,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • von N. W, L. W und C. W, vertreten durch M. Jéhannin, avocate,
  • der Sanofi Pasteur MSD SNC, vertreten durch J.-P. Chevallier und F. Monteret-Amar, avocats,
  • der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas, J. Traband und A. Maitrepierre als Bevollmächtigte,
  • der tschechischen Regierung, vertreten durch J. Vláčil und M. Smolek als Bevollmächtigte,
  • der deutschen Regierung, vertreten durch M. Hellmann und T. Henze als Bevollmächtigte,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch O. Beynet und G. Braga da Cruz als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. März 2017

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 der Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25. Juli 1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte (ABl. 1985, L 210, S. 29).

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau N. W, Frau L. W und Frau C. W (im Folgenden: W u. a.), die sowohl in ihrem eigenen Namen als auch in ihrer Eigenschaft als Erbinnen von Herrn J. W handeln, auf der einen und der Sanofi Pasteur MSD SNC (im Folgenden: Sanofi Pasteur), der Caisse primaire d'assurance maladie des Hauts-de-Seine und Carpimko, einer autonomen Pensions- und Versorgungskasse, auf der anderen Seite wegen der eventuellen Haftung von Sanofi Pasteur aufgrund eines von ihr hergestellten Impfstoffs, der fehlerhaft gewesen sein soll.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rz. 3

In den Erwägungsgründen 1, 2, 6, 7 und 18 der Richtlinie 85/374 heißt es:

„Eine Angleichung...

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