Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer. Gleichbehandlung. Nationale Rechtsvorschriften, wonach für die Überweisung einer Rentennachzahlung ins Ausland ein höherer Mindestbetrag gilt als für die Überweisung im Inland. Auslegung des Gemeinschaftsrechts auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit, insbesondere des Grundsatzes der Gleichbehandlung. Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen als Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Mindestbetrag für die Überweisung einer Rentennachzahlung ins Ausland und für die Überweisung im Inland. Mittelbare Diskriminierung durch nationales Recht
Normenkette
EGVtr Art. 177 a.F., Art. 234
Beteiligte
Landesversicherungsanstalt Westfalen |
Bundesrepublik Deutschland |
Tenor
Der in Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 1945/93 des Rates vom 30. Juni 1993 geänderten Fassung niedergelegte Grundsatz der Gleichbehandlung steht nationalen Rechtsvorschriften entgegen, wonach eine Geldleistung an einen in einem anderen Mitgliedstaat wohnenden Gemeinschaftsbürger nur ausgezahlt wird, wenn sie einen Mindestbetrag übersteigt, der höher ist als der Betrag, der für eine solche Zahlung innerhalb desselben Mitgliedstaats gilt, sofern die Auszahlung in einem anderen Mitgliedstaat nicht zu höheren Kosten führt als die Auszahlung derselben Leistung innerhalb des erstgenannten Mitgliedstaats.
Tatbestand
In der Rechtssache C-124/99
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) vom Sozialgericht Münster (Deutschland) in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit
Carl Borawitz
gegen
Landesversicherungsanstalt Westfalen,
beigeladen:
Bundesrepublik Deutschland,
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung des Gemeinschaftsrechts auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit, insbesondere des Grundsatzes der Gleichbehandlung,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten D. A. O. Edward (Berichterstatter) sowie der Richter P. J. G. Kapteyn und A. La Pergola,
Generalanwalt: P. Léger
Kanzler: R. Grass
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
– der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Rechtsberater P. Hillenkamp und N. Yerrell, zum Juristischen Dienst abgeordnete nationale Beamtin, als Bevollmächtigte,
aufgrund des Berichts des Berichterstatters,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 17. Februar 2000,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
1.
Das Sozialgericht Münster hat mit Beschluss vom 12. März 1999, beim Gerichtshof eingegangen am 14. April 1999, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) eine Frage nach der Auslegung des Gemeinschaftsrechts auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit, insbesondere des Grundsatzes der Gleichbehandlung, zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2.
Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Carl Borawitz (im Folgenden: Kläger) und der Landesversicherungsanstalt Westfalen (im Folgenden: LVA) über deren Weigerung, dem Kläger eine Rentennachzahlung auszuzahlen.
Gemeinschaftsrecht
3.
Artikel 48 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 39 EG) bestimmt:
(1) Spätestens bis zum Ende der Übergangszeit wird innerhalb der Gemeinschaft die Freizügigkeit der Arbeitnehmer hergestellt.
(2) Sie umfasst die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen.
…
4.
Die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 1945/93 des Rates vom 30. Juni 1993 (ABl. L 181, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71), regelt in Artikel 3 Absatz 1 den Grundsatz der Gleichbehandlung:
Die Personen, die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen und für die diese Verordnung gilt, haben die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates, soweit besondere Bestimmungen dieser Verordnung nichts anderes vorsehen.
5.
Was die Höhe der Leistungen angeht, die von einem Mitgliedstaat an einen in einem anderen Mitgliedstaat wohnenden Empfänger gezahlt werden, bestimmt Artikel 10 Absatz 1 Unterabsatz 1 der Verordnung:
Die Geldleistungen bei Invalidität, Alter oder für die Hinterbliebenen, die Renten bei Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten und die Sterbegelder, auf die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaa...