Entscheidungsstichwort (Thema)
Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Rahmenbeschluss 2002/584/JI. Europäischer Haftbefehl und Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten. Art. 4. Gründe, aus denen eine Vollstreckung des Haftbefehls abgelehnt werden kann. Art. 4 Nr. 6. Haftbefehl zum Zweck der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe. Art. 5. Vom Ausstellungsmitgliedstaat zu gewährende Garantien. Art. 5 Nr. 1. Verurteilung in Abwesenheit. Art. 5 Nr. 3. Haftbefehl zum Zweck der Strafverfolgung. Übergabe unter der Bedingung, dass die gesuchte Person in den Vollstreckungsmitgliedstaat rücküberstellt wird. Gemeinsame Anwendung von Art. 5 Nrn. 1 und 3. Vereinbarkeit
Beteiligte
Tenor
Die Art. 4 Nr. 6 und 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten sind dahin auszulegen, dass, wenn der betreffende Vollstreckungsmitgliedstaat Art. 5 Nrn. 1 und 3 dieses Rahmenbeschlusses in sein nationales Recht umgesetzt hat, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, der zur Vollstreckung einer Strafe ausgestellt wurde, die im Sinne dieses Art. 5 Nr. 1 in Abwesenheit verhängt worden ist, an die Bedingung geknüpft werden kann, dass die betroffene Person, die Staatsangehöriger des Vollstreckungsmitgliedstaats oder dort wohnhaft ist, in diesen Staat rücküberstellt wird, um gegebenenfalls dort die Strafe zu verbüßen, die im Anschluss an ein wieder aufgenommenes und in ihrer Anwesenheit durchgeführtes Verfahren im Ausstellungsmitgliedstaat gegen sie verhängt wird.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 35 EU, eingereicht von der Cour Constitutionnelle (Belgien) mit Entscheidung vom 24. Juli 2009, beim Gerichtshof eingegangen am 31. Juli 2009, in dem Verfahren betreffend die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gegen
I. B.
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot, der Richter K. Schiemann und L. Bay Larsen (Berichterstatter) sowie der Richterinnen C. Toader und M. Berger,
Generalanwalt: P. Cruz Villalón,
Kanzler: M.-A. Gaudissart, Referatsleiter,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. Mai 2010,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von I. B., vertreten durch P. Huget, avocat,
- der belgischen Regierung, vertreten durch T. Materne als Bevollmächtigten im Beistand von J. Bourtembourg und F. Belleflamme, avocats,
- der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und J. Kemper als Bevollmächtigte,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch E. Riedl als Bevollmächtigten,
- der polnischen Regierung, vertreten durch M. Dowgielewicz als Bevollmächtigten,
- der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Falk und C. Meyer-Seitz als Bevollmächtigte,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch I. Rao als Bevollmächtigte,
- des Rates der Europäischen Union, vertreten durch O. Petersen und I. Gurov als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters und S. Grünheid als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. Juli 2010
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 3, 4 Nr. 6 und 5 Nrn. 1 und 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. L 190, S. 1) sowie die Gültigkeit der genannten Art. 4 Nr. 6 und 5 Nr. 3.
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Verfahrens betreffend die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls durch das Tribunal de première instance de Nivelles (Belgien), der am 13. Dezember 2007 vom Tribunalul Bucureşti (Landgericht Bukarest) (Rumänien) (im Folgenden auch: rumänische ausstellende Justizbehörde) gegen I. B., einen rumänischen Staatsangehörigen mit Wohnsitz in Belgien, zum Zweck der Vollstreckung einer Gefängnisstrafe von vier Jahren, die durch eine in Abwesenheit ergangene gerichtliche Entscheidung verhängt worden war, ausgestellt wurde.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Aus der im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften vom 1. Mai 1999 (ABl. L 114, S. 56) veröffentlichten Information über den Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrags von Amsterdam geht hervor, dass das Königreich Belgien eine Erklärung nach Art. 35 Abs. 2 EU abgegeben hat, mit der es die Zuständigkeit des Gerichtshofs für Entscheidungen gemäß Art. 35 Abs. 3 Buchst. b EU anerkannt hat.
Rz. 4
Gemäß Art. 10 Abs. 1 des Protokolls Nr. 36 über die Übergangsbestimmungen, das einen Anhang zum AEU-Vertrag bildet, bleiben die Befugnisse des Gerichtshofs nach Titel VI des EU-Vertrags bei Rechtsakten der Union, die vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon angenommen wurden, unverändert, einschließlich in den Fällen, in denen sie nach Art. 35 Abs. 2 EU anerkannt wurden.
Rahmenbeschluss 2002/584
Rz. 5
Die Erwägungsgründe 1, 5, 10 un...