Entscheidungsstichwort (Thema)
Freizügigkeit. Richtlinie 2004/38/EG. Recht auf Daueraufenthalt. Art. 16. Rechtmäßiger Aufenthalt. Aufenthalt aufgrund nationalen Rechts. Aufenthaltszeit, die vor dem Beitritt des Herkunftsmitgliedstaats des betreffenden Bürgers zur Union zurückgelegt worden ist
Beteiligte
Tenor
1. Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG ist so auszulegen, dass ein Unionsbürger, der im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eine Aufenthaltszeit von über fünf Jahren nur aufgrund des nationalen Rechts dieses Staates zurückgelegt hat, nicht so betrachtet werden kann, als habe er das Recht auf Daueraufenthalt nach dieser Bestimmung erworben, wenn er während dieser Aufenthaltszeit die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie nicht erfüllt hat.
2. Für die Zwecke des Erwerbs des Rechts auf Daueraufenthalt gemäß Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 sind Aufenthaltszeiten eines Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat vor dem Beitritt dieses Drittstaats zur Europäischen Union in Ermangelung spezifischer Bestimmungen in der Beitrittsakte zu berücksichtigen, soweit sie im Einklang mit den Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie zurückgelegt wurden.
Tatbestand
In den verbundenen Rechtssachen
betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) mit Entscheidungen vom 13. Juli 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 31. August 2010, in den Verfahren
Tomasz Ziolkowski (C-424/10),
Barbara Szeja,
Maria-Magdalena Szeja,
Marlon Szeja (C-425/10)
gegen
Land Berlin,
Beteiligter:
Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues, K. Lenaerts, J.-C. Bonichot, J. Malenovský und U. Lõhmus, der Richterin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter M. Ilešič, E. Levits, T. von Danwitz und A. Arabadjiev,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: B. Fülöp, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. Juli 2011,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Ziolkowski sowie von Frau Szeja und ihren Kindern, vertreten durch Rechtsanwalt L. Weber,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und N. Graf Vitzthum als Bevollmächtigte,
- Irlands, vertreten durch D. O'Hagan als Bevollmächtigten im Beistand von B. Doherty,
- der griechischen Regierung, vertreten durch M. Michelogiannaki und T. Papadopoulou als Bevollmächtigte,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Ossowski als Bevollmächtigten im Beistand von T. Ward, Barrister,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Bogensberger, M. Wilderspin und D. Maidani als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. September 2011
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Rz. 1
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung des Rechts auf Daueraufenthalt im Sinne von Art. 16 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77, sowie – Berichtigungen – ABl. L 229, S. 35, und ABl. 2005, L 197, S. 34).
Rz. 2
Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von zwei Rechtsstreitigkeiten, in denen zum einen Herr Ziolkowski und zum anderen Frau Szeja und ihre beiden minderjährigen Kinder dem Land Berlin gegenüberstehen und in denen es um die Weigerung des Landes Berlin geht, ihnen eine Bescheinigung über ihr Recht auf Daueraufenthalt gemäß Art. 16 der Richtlinie 2004/38 auszustellen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Die Erwägungsgründe 3, 4, 10, 17, 18 und 29 der Richtlinie 2004/38 lauten:
„(3) Die Unionsbürgerschaft sollte der grundsätzliche Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten sein, wenn sie ihr Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt wahrnehmen. Daher müssen die bestehenden Gemeinschaftsinstrumente, die Arbeitnehmer und Selbständige sowie Studierende und andere beschäftigungslose Personen getrennt behandeln, kodifiziert und überarbeitet werden, um das Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht aller Unionsbürger zu vereinfachen und zu verstärken.
(4) Um diese bereichsspezifischen und fragmentarischen Ansätze des Freizügigke...