Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Europäischer Haftbefehl. Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten. Vollstreckungsvoraussetzungen. Gründe, aus denen die Vollstreckung abgelehnt werden kann. Ausnahmen. Pflicht zur Vollstreckung. In Abwesenheit verhängte Strafe. Wendung ‚Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat‘. Betroffener, der weder im ersten Rechtszug noch im Berufungsverfahren persönlich erschienen ist. Nationale Regelung, die ein absolutes Verbot der Übergabe des Betroffenen im Fall einer in Abwesenheit ergangenen Entscheidung vorsieht. Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung
Normenkette
Rahmenbeschluss 2002/584/JI; Rahmenbeschluss 2002/584/JI Art. 4a Abs. 1
Beteiligte
Generalstaatsanwaltschaft Berlin (Condamnation par défaut) |
Tenor
1.Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass ein Berufungsverfahren, in dem ein Urteil ergangen ist, mit dem die erstinstanzliche Entscheidung abgeändert und die betreffende Rechtssache somit endgültig entschieden wurde, unter die Wendung „Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat“ im Sinne dieser Bestimmung fällt.
2.Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass eine nationale Regelung zur Umsetzung dieser Bestimmung, die es einer vollstreckenden Justizbehörde generell verwehrt, einen zur Vollstreckung einer Strafe ausgestellten Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken, wenn der Betroffene in der Verhandlung, die zu der betreffenden Entscheidung geführt hat, nicht persönlich erschienen ist, gegen die genannte Bestimmung verstößt. Ein nationales Gericht ist verpflichtet, diese nationale Regelung unter Berücksichtigung seines gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der nach diesem Recht anerkannten Auslegungsmethoden so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks dieses Rahmenbeschlusses auszulegen.
Tatbestand
In der Rechtssache C-398/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Kammergericht (Berlin, Deutschland) mit Entscheidung vom 14. Juni 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Juni 2022, in dem Verfahren betreffend die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls gegen
RQ,
Beteiligte:
Generalstaatsanwaltschaft Berlin,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten F. Biltgen (Berichterstatter) sowie des Richters N. Wahl und der Richterin M. L. Arastey Sahún,
Generalanwalt: P. Pikamäe,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, P. Busche, M. Hellmann und R. Kanitz als Bevollmächtigte,
- – der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und H. Leupold als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Verfahrens zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls in Deutschland, der gegen einen tschechischen Staatsangehörigen ausgestellt wurde, um eine Freiheitsstrafe in der Tschechischen Republik zu vollstrecken.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 1 („Definition des Europäischen Haftbefehls und Verpflichtung zu seiner Vollstreckung“) des Rahmenbeschlusses 2002/584 bestimmt:
„(1) Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.
(2) Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.
(3) Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 [EU] niedergelegt sind, zu achten.“
Rz. 4
In Art. 4a („Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die Person nicht persönlich ersch...