Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Gemeinsame Politik im Bereich Asyl. Gemeinsame Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes. Unzulässigkeit eines Antrags auf internationalen Schutz eines Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat, dem in einem anderen Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, während sich das minderjährige Kind dieses Drittstaatsangehörigen mit subsidiärem Schutzstatus im erstgenannten Mitgliedstaat aufhält. Recht auf Achtung des Familienlebens. Kindeswohl. Kein Verstoß gegen die Art. 7 und 24 der Charta der Grundrechte bei Unzulässigkeit eines Antrags auf internationalen Schutz. Pflicht der Mitgliedstaaten, für die Aufrechterhaltung des Familienverbands der Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, Sorge zu tragen
Normenkette
Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 7, 24; EURL 95/2011 Art. 23 Abs. 2; Richtlinie 2013/32/EU Art. 33 Abs. 2 Buchst. a
Beteiligte
Commissaire général aux réfugiés und aux apatrides |
Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides |
Tenor
Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes ist im Licht von Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er einen Mitgliedstaat nicht daran hindert, von der mit dieser Vorschrift verliehenen Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz deshalb als unzulässig abzulehnen, weil dem Antragsteller von einem anderen Mitgliedstaat bereits die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, wenn der Antragsteller der Vater eines minderjährigen, unbegleiteten Kindes ist, dem in dem erstgenannten Mitgliedstaat subsidiärer Schutz gewährt worden ist, wobei jedoch die Anwendung von Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes unberührt bleibt.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil d'État (Staatsrat, Belgien) mit Entscheidung vom 30. Juni 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 29. September 2020, in dem Verfahren
XXXX
gegen
Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentinnen A. Prechal und K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, S. Rodin, I. Jarukaitis und J. Passer (Berichterstatter), der Richter J.-C. Bonichot, M. Safjan, F. Biltgen, P. G. Xuereb und N. Piçarra, der Richterin L. S. Rossi sowie des Richters A. Kumin,
Generalanwalt: P. Pikamäe,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs, M. Van Regemorter und C. Pochet als Bevollmächtigte,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von W. Ferrante, avvocato dello Stato,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azéma und L. Grønfeldt als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 30. September 2021
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 18 und 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), der Art. 2, 20, 23 und 31 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9) sowie von Art. 25 Abs. 6 und Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen XXXX und dem Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides (Generalkommissar für Flüchtlinge und Staatenlose, Belgien, im Folgenden: CGRA) wegen der Ablehnung eines in Belgien gestellten Antrags auf internationalen Schutz.
Rechtlicher Rahmen
Völkerrecht
Rz. 3
In Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 des am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) in der durch das am 31. Januar 1967 in New York geschlossene Protoko...