Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Sozialpolitik. Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers. Übernahme der nicht erfüllten Ansprüche der Arbeitnehmer aus Arbeitsverträgen und Arbeitsverhältnissen durch die Garantieeinrichtungen. Ausschluss bei Kenntnisnahme der Beendigung des Arbeitsvertrags durch den Arbeitnehmer
Normenkette
Richtlinie 2008/94/EG
Beteiligte
Association Unedic délégation AGS de Marseille |
Insolvenzverwalter der Gesellschaft K |
Tenor
Die Richtlinie 2008/94/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2008 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers
ist dahin auszulegen, dass
sie einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Deckung der nicht erfüllten Ansprüche von Arbeitnehmern aus Arbeitsverträgen oder Arbeitsverhältnissen durch ein nationales System vorsieht, mit dem die Befriedigung der Ansprüche von Arbeitnehmern durch eine gemäß Art. 3 dieser Richtlinie errichtete Garantieeinrichtung sichergestellt wird, wenn die Beendigung des Arbeitsvertrags auf Initiative des Insolvenzverwalters, des Liquidators oder des betreffenden Arbeitgebers erfolgt, während die Deckung solcher Ansprüche durch die Garantieeinrichtung ausgeschlossen ist, wenn der betreffende Arbeitnehmer die Beendigung seines Arbeitsvertrags wegen hinreichend schwerwiegender Vertragsverletzungen seines Arbeitgebers, die der Fortführung des Arbeitsvertrags entgegenstehen, zur Kenntnis genommen hat und ein nationales Gericht diese Kenntnisnahme als gerechtfertigt angesehen hat.
Tatbestand
In der Rechtssache C-125/23
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour d’appel d’Aix-en-Provence (Berufungsgericht Aix-en-Provence, Frankreich) mit Entscheidung vom 24. Februar 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 1. März 2023, in dem Verfahren
Association Unedic délégation AGS de Marseille
gegen
V,
W,
X,
Y,
Z,
Insolvenzverwalter der Gesellschaft K
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten F. Biltgen, des Richters N. Wahl und der Richterin M. L. Arastey Sahún (Berichterstatterin),
Generalanwalt: P. Pikamäe,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – der Association Unedic délégation AGS de Marseille, vertreten durch I. Piquet-Maurin, avocate,
- – der französischen Regierung, vertreten durch R. Bénard und T. Lechevallier als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Clotuche-Duvieusart und F. van Schaik als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2008/94/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2008 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers (ABl. 2008, L 283, S. 36).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Association Unedic délégation AGS de Marseille (im Folgenden: AGS de Marseille) auf der einen Seite und V, W, X, Y und Z (im Folgenden: betroffene Arbeitnehmer) sowie dem Insolvenzverwalter der Gesellschaft K auf der anderen Seite wegen der Befriedigung der nicht erfüllten Ansprüche dieser Arbeitnehmer nach der gerichtlichen Liquidation dieser Gesellschaft.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Die Erwägungsgründe 3 und 7 der Richtlinie 2008/94 lauten:
„(3) Es sind Bestimmungen notwendig, die die Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers schützen und um ihnen ein Minimum an Schutz zu sichern, insbesondere die Zahlung ihrer nicht erfüllten Ansprüche zu gewährleisten; dabei muss die Notwendigkeit einer ausgewogenen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in der Gemeinschaft berücksichtigt werden. Deshalb sollten die Mitgliedstaaten eine Einrichtung schaffen, die die Befriedigung der nicht erfüllten Arbeitnehmeransprüche garantiert.
…
(7) Die Mitgliedstaaten können Grenzen für die Verpflichtungen der Garantieeinrichtungen festlegen, die mit der sozialen Zielsetzung der Richtlinie vereinbar sein müssen und die unterschiedliche Höhe von Ansprüchen berücksichtigen können.“
Rz. 4
Art. 1 der Richtlinie 2008/94 sieht vor:
„(1) Diese Richtlinie gilt für Ansprüche von Arbeitnehmern aus Arbeitsverträgen oder Arbeitsverhältnissen gegen Arbeitgeber, die zahlungsunfähig im Sinne des Artikels 2 Absatz 1 sind.
(2) Die Mitgliedstaaten können die Ansprüche bestimmter Gruppen von Arbeitnehmern wegen des Bestehens anderer Garantieformen ausnahmsweise vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie ausschließen, wenn diese den Betroffenen nachweislich einen Schutz gewährleisten, der dem sich aus dieser Richtlinie ergebenden Schutz gleichwertig ist.
…“
Rz. 5
Art. 2 der Richtlinie 2008/94 bestimmt:
„(1) Im Sinne dieser Richtlinie gilt ein Arbeitgeber als zahlungsunfähig, wenn die Eröffnung eines nach...