Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorabentscheidungsersuchen. Art. 267 AEUV. Prüfung der Vereinbarkeit eines nationalen Gesetzes sowohl mit dem Unionsrecht als auch mit der nationalen Verfassung. Nationale Regelung, die den Vorrang eines Zwischenverfahrens zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit vorsieht. Art. 67 AEUV. Freizügigkeit. Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen. Verordnung (EG) Nr. 562/2006. Art. 20 und 21. Nationale Regelung, die Identitätskontrollen im Gebiet zwischen der Landgrenze von Frankreich zu den Vertragsstaaten des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen und einer diesseits der Grenze im Abstand von 20 km zu ihr gezogenen Linie erlaubt
Beteiligte
Tenor
1. Art. 267 AEUV steht Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegen, mit denen ein Zwischenverfahren zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit nationaler Gesetze eingeführt wird, soweit die Vorrangigkeit dieses Verfahrens zur Folge hat, dass sowohl vor der Übermittlung einer Frage der Verfassungsmäßigkeit an das mit der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen betraute nationale Gericht als auch gegebenenfalls nach Erlass der Entscheidung dieses Gerichts zu der betreffenden Frage alle anderen nationalen Gerichte an der Wahrnehmung ihrer Befugnis oder der Erfüllung ihrer Verpflichtung gehindert sind, dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen. Art. 267 AEUV steht solchen nationalen Rechtsvorschriften jedoch nicht entgegen, soweit es den übrigen nationalen Gerichten freisteht,
- in jedem Moment des Verfahrens, den sie für geeignet halten, und selbst nach Abschluss eines Zwischenverfahrens zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit dem Gerichtshof jede Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, die sie für erforderlich halten,
- jede Maßnahme zu erlassen, die erforderlich ist, um den vorläufigen gerichtlichen Schutz der durch die Rechtsordnung der Union eingeräumten Rechte sicherzustellen, und
- nach Abschluss eines solchen Zwischenverfahrens die fragliche nationale gesetzliche Bestimmung unangewandt zu lassen, wenn sie sie als unionsrechtswidrig ansehen.
Es ist Aufgabe des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die in den Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Rechtsvorschriften im Einklang mit diesen Anforderungen des Unionsrechts ausgelegt werden können.
2. Art. 67 Abs. 2 AEUV sowie die Art. 20 und 21 der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) stehen einer nationalen Regelung entgegen, die den Polizeibehörden des betreffenden Mitgliedstaats die Befugnis einräumt, in einem Gebiet mit einer Tiefe von 20 km entlang der Landgrenze dieses Staates zu den Vertragsstaaten des am 19. Juni 1990 in Schengen (Luxemburg) unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen die Identität jeder Person unabhängig von deren Verhalten und vom Vorliegen besonderer Umstände, aus denen sich die Gefahr einer Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung ergibt, zu kontrollieren, um die Einhaltung der gesetzlichen Verpflichtungen in Bezug auf den Besitz, das Mitführen und das Vorzeigen von Urkunden und Bescheinigungen zu überprüfen, ohne dass diese Regelung den erforderlichen Rahmen für diese Befugnis vorgibt, der gewährleistet, dass die tatsächliche Ausübung der Befugnis nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben kann.
Tatbestand
In den verbundenen
betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour de cassation (Frankreich) mit Entscheidungen vom 16. April 2010, beim Gerichtshof eingegangen am selben Tag, in den Verfahren gegen
Aziz Melki (C-188/10),
Sélim Abdeli (C-189/10)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues, K. Lenaerts und J.-C. Bonichot, der Kammerpräsidentinnen R. Silva de Lapuerta und C. Toader sowie der Richter K. Schiemann, E. Juhász, T. von Danwitz (Berichterstatter), J.-J. Kasel und M. Safjan,
Generalanwalt: J. Mazák,
Kanzler: M.-A. Gaudissart, Referatsleiter,
aufgrund des Beschlusses des Präsidenten des Gerichtshofs vom 12. Mai 2010, die Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 23a der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und Art. 104a Abs. 1 der Verfahrensordnung einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 2. Juni 2010,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Melki und Herrn Abdeli, vertreten durch R. Boucq, avocat,
- der französischen Regierung, vertreten durch E. Belliard, G. de Bergues und B. Beaupère-Manokha als Bevollmächtigte,
- der belgischen Regierung, vertreten durch...