Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Zulässigkeit. Fortbestand eines Rechtsschutzinteresses im Ausgangsrechtsstreit. Überprüfungspflicht des vorlegenden Gerichts
Normenkette
AEUV Art. 267
Beteiligte
Belgischer Staat (Éléments postérieurs à la décision de retour) |
Tenor
Die vom Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) mit Entscheidungen vom 4. November 2021 eingereichten Vorabentscheidungsersuchen sind unzulässig.
Tatbestand
In den verbundenen Rechtssachen C-711/21 und C-712/21
betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) mit Entscheidungen vom 4. November 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 25. November 2021, in den Verfahren
XXX(C-711/21),
XXX(C-712/21)
gegen
État belge,vertreten durch den Secrétaire d’État à l’Asile et la Migration (Staatssekretär für Asyl und Migration),
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos (Berichterstatter), der Richterin L. S. Rossi, der Richter J.-C. Bonichot und S. Rodin sowie der Richterin O. Spineanu-Matei,
Generalanwalt: A. M. Collins,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von XXX und XXX, vertreten durch D. Andrien, Avocat,
- – der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs, C. Pochet und M. Van Regemorter als Bevollmächtigte im Beistand von S. Matray, Avocate,
- – der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und M. H. S. Gijzen als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azema und A. Katsimerou als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 2. März 2023
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung der Art. 4, 7 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie von Art. 5, Art. 6 Abs. 6 und Art. 13 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98).
Rz. 2
Sie ergehen im Rahmen zweier Rechtsstreitigkeiten zwischen zwei Drittstaatsangehörigen auf der einen Seite und dem belgischen Staat auf der anderen Seite über die Rechtmäßigkeit der gegen diese Drittstaatsangehörigen ergangenen Rückkehrentscheidungen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 5 der Richtlinie 2008/115 lautet:
„Bei der Umsetzung dieser Richtlinie berücksichtigen die Mitgliedstaaten in gebührender Weise:
a) das Wohl des Kindes,
b) die familiären Bindungen,
c) den Gesundheitszustand der betreffenden Drittstaatsangehörigen,
und halten den Grundsatz der Nichtzurückweisung ein.“
Rz. 4
Art. 6 der Richtlinie 2008/115 bestimmt:
„(1) Unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 bis 5 erlassen die Mitgliedstaaten gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung.
…
(6) Durch diese Richtlinie sollen die Mitgliedstaaten nicht daran gehindert werden, entsprechend ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften und unbeschadet der nach Kapitel III und nach anderen einschlägigen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts und des einzelstaatlichen Rechts verfügbaren Verfahrensgarantien mit einer einzigen behördlichen oder richterlichen Entscheidung eine Entscheidung über die Beendigung eines legalen Aufenthalts sowie eine Rückkehrentscheidung und/oder eine Entscheidung über eine Abschiebung und/oder ein Einreiseverbot zu erlassen.“
Rz. 5
In Art. 13 der Richtlinie 2008/115 heißt es:
„(1) Die betreffenden Drittstaatsangehörigen haben das Recht, bei einer zuständigen Justiz- oder Verwaltungsbehörde oder einem zuständigen Gremium, dessen Mitglieder unparteiisch sind und deren Unabhängigkeit garantiert wird, einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr nach Artikel 12 Absatz 1 einzulegen oder die Überprüfung solcher Entscheidungen zu beantragen.
(2) Die in Absatz 1 genannte Behörde oder dieses Gremium ist befugt, Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr nach Artikel 12 Absatz 1 zu überprüfen, und hat auch die Möglichkeit, ihre Vollstreckung einstweilig auszusetzen, sofern eine einstweilige Aussetzung nicht bereits im Rahmen der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften anwendbar ist.
…“
Belgisches Recht
Rz. 6
Art. 7 der Loi du 15 décembre 1980 sur l’accès au territoire, le séjour, l’établissement et l’éloignement des étrangers (Gesetz vom 15. Dezember 1980 über die Einreise ins Staatsgebiet, den Aufenthalt, die Niederlassung und das Ausweisen von Ausländern) (Moniteur belgevom 31. Dezember 1980, S. 29535) in der auf die Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung bestimmte:
„Unbeschadet günstigerer Bestimmungen eines internationalen Vertrags kann der Minister oder sein Beauftragter den Ausländer, dem es weder erlaubt noch gestattet ist, sich länger als drei Monate...