Entscheidungsstichwort (Thema)
Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Verordnung (EG) Nr. 1346/2000. Insolvenzverfahren. Begriff ‚Beendigung des Verfahrens’. Möglichkeit für das Gericht des Sekundärinsolvenzverfahrens, die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners zu beurteilen. Befugnis zur Eröffnung eines Liquidationsverfahrens als Sekundärinsolvenzverfahren, wenn das Hauptinsolvenzverfahren ein Sauvegarde-Verfahren ist
Beteiligte
Bank Handlowy und Adamiak |
Bank Handlowy w Warszawie SA |
PPHU „ADAX”/Ryszard Adamiak |
Tenor
1. Art. 4 Abs. 2 Buchst. j der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren in der durch die Verordnung (EG) Nr. 788/2008 des Rates vom 24. Juli 2008 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass das nationale Recht des Mitgliedstaats, in dem das Insolvenzverfahren eröffnet wurde, darüber entscheidet, wann die Beendigung des Insolvenzverfahrens eintritt.
2. Art. 27 der Verordnung Nr. 1346/2000 in der durch die Verordnung Nr. 788/2008 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er es erlaubt, ein Sekundärinsolvenzverfahren in dem Mitgliedstaat zu eröffnen, in dem der Schuldner eine Niederlassung hat, wenn das Hauptinsolvenzverfahren einem Schutzzweck dient. Das für die Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens zuständige Gericht hat unter Beachtung des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit die Ziele des Hauptinsolvenzverfahrens zu berücksichtigen und der Systematik der Verordnung Rechnung zu tragen.
3. Art. 27 der Verordnung Nr. 1346/2000 in der durch die Verordnung Nr. 788/2008 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass das mit einem Antrag auf Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens befasste Gericht die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners, über dessen Vermögen in einem anderen Mitgliedstaat ein Hauptinsolvenzverfahren eröffnet worden ist, auch dann nicht prüfen darf, wenn das Hauptinsolvenzverfahren einem Schutzzweck dient.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Rejonowy Poznań-Stare Miasto w Poznaniu (Polen) mit Entscheidung vom 21. Februar 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 7. März 2011, in dem Verfahren
Bank Handlowy w Warszawie SA,
PPHU „ADAX”/Ryszard Adamiak
gegen
Christianapol sp. z o.o.
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Richter A. Borg Barthet, J.-J. Kasel und M. Safjan sowie der Richterin M. Berger (Berichterstatterin),
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: K. Sztranc-Sławiczek, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. März 2012,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Bank Handlowy w Warszawie SA, vertreten durch Z. Skórczyński, Rechtsberater,
- der Christianapol sp. z o.o., vertreten durch M. Barłowski, Rechtsberater, im Beistand von P. Saigne und M. Le Berre, adwokaci,
- der polnischen Regierung, vertreten durch M. Szpunar, M. Arciszewski und B. Czech als Bevollmächtigte,
- der spanischen Regierung, vertreten durch S. Centeno Huerta als Bevollmächtigte,
- der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues, B. Beaupère-Manokha und N. Rouam als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin und A. Stobiecka-Kuik als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 24. Mai 2012
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 und 2 Buchst. j sowie Art. 27 der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren (ABl. L 160, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 788/2008 des Rates vom 24. Juli 2008 geänderten Fassung (ABl. L 213, S. 1) (im Folgenden: Verordnung).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Verfahrens über die von der Bank Handlowy w Warszawie SA (im Folgenden: Bank Handlowy) und der PPHU „ADAX”/Ryszard Adamiak (im Folgenden: Adamiak) beantragte Eröffnung eines Insolvenzverfahrens in Polen gegen die Gesellschaft polnischen Rechts Christianapol sp. z o.o. (im Folgenden: Christianapol), über die in Frankreich bereits ein Sauvegarde-Verfahren (procédure de sauvegarde) eröffnet wurde.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Die Erwägungsgründe 2, 12, 19, 20 und 23 der Verordnung lauten:
„(2) Für ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarktes sind effiziente und wirksame grenzüberschreitende Insolvenzverfahren erforderlich; die Annahme dieser Verordnung ist zur Verwirklichung dieses Ziels erforderlich, das in den Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen im Sinne des Artikels 65 des Vertrags fällt.
…
(12) Diese Verordnung gestattet die Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens in dem Mitgliedstaat, in dem der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. Dieses Verfahren hat universale Geltung mit dem Ziel, das gesamte Vermögen des Schuldners zu erfassen. Zum Schutz der unterschiedlichen Interessen gestattet diese Verordnung die Eröffnung von Sekun...