Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtsmittel. Staatliche Beihilfen. Erlass von 65 % einer Steuerschuld im Rahmen eines Insolvenzverfahrens. Entscheidung, mit der die Beihilfe für mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar erklärt und ihre Rückforderung angeordnet wird. Kriterium des privaten Gläubigers. Grenzen der gerichtlichen Überprüfung. Ersetzung der Begründung in der streitigen Entscheidung durch die eigene Begründung des Gerichts. Offensichtlicher Beurteilungsfehler. Verfälschung von Beweisen
Beteiligte
Frucona Košice / Kommission |
Tenor
1. Das Urteil des Gerichts der Europäischen Union vom 7. Dezember 2010, Frucona Košice/Kommission (Rechtssache T-11/07), wird aufgehoben.
2. Die Rechtssache wird an das Gericht der Europäischen Union zur Entscheidung über die bei ihm erhobenen und von ihm nicht geprüften Klagegründe zurückverwiesen.
3. Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 17. Februar 2011,
Frucona Košice a.s. mit Sitz in Košice (Slowakei), Prozessbevollmächtigte: P. Lasok, QC, J. Holmes und B. Hartnett, Barristers, sowie Rechtsanwalt O. Geiss,
Rechtsmittelführerin,
andere Parteien des Verfahrens:
Europäische Kommission, vertreten durch K. Walkerová, L. Armati und B. Martenczuk als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Beklagte im ersten Rechtszug,
unterstützt durch
St. Nicolaus – trade a.s. mit Sitz in Bratislava (Slowakei), Prozessbevollmächtigter: N. Smaho, avocat,
Streithelferin im ersten Rechtszug,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Rosas in Wahrnehmung der Aufgaben der Präsidentin der Zweiten Kammer sowie der Richter U. Lõhmus, A. Ó Caoimh, A. Arabadjiev (Berichterstatter) und C. G. Fernlund,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 5. Juli 2012,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 6. September 2012
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Mit ihrem Rechtsmittel beantragt die Frucona Košice a.s. (im Folgenden: Frucona Košice) die Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 7. Dezember 2010, Frucona Košice/Kommission (T-11/07, Slg. 2010, II-5453, im Folgenden: angefochtenes Urteil), mit dem das Gericht ihre Klage auf Nichtigerklärung der Entscheidung 2007/254/EG der Kommission vom 7. Juni 2006 über die staatliche Beihilfe C 25/2005 (ex NN 21/2005), gewährt durch die Slowakische Republik zugunsten von Frucona Košice a.s. (ABl. 2007, L 112, S. 14, im Folgenden: streitige Entscheidung), abgewiesen hat.
Vorgeschichte des Rechtsstreits und streitige Entscheidung
Rz. 2
Frucona Košice ist eine Gesellschaft slowakischen Rechts, die u. a. alkoholische Getränke und Spirituosen herstellte.
Rz. 3
Am 25. Februar 2004 konnte Frucona Košice, der in der Vergangenheit mehrfach ein Steueraufschub gewährt worden war, die für Januar 2004 geschuldeten Verbrauchsteuern nicht entrichten.
Rz. 4
Am 6. März 2004 wurde ihr deshalb die Lizenz zur Herstellung und Verarbeitung von alkoholischen Getränken und Spirituosen entzogen. Seither hat sie sich darauf beschränkt, Spirituosen unter der Marke „Frucona” zu vertreiben, die sie bei einem Unternehmen kaufte, das diese gemäß einer Vereinbarung in den Fabriken von Frucona Košice unter Lizenz produzierte.
Rz. 5
Außerdem trat die Überschuldung von Frucona Košice im Sinne des Gesetzes Nr. 328/1991 über Insolvenz- und Vergleichsverfahren (zákon č. 328/1991 Zb. o konkurze a vyrovnaní) ein.
Rz. 6
Aus der streitigen Entscheidung geht hervor, dass die Insolvenz- und Vergleichsverfahren der Kontrolle eines Gerichts unterliegen mit dem Ziel, die finanzielle Situation überschuldeter Unternehmen zu regeln. Während die Insolvenz das Ende des überschuldeten Unternehmens herbeiführt, kann es seine Tätigkeit bei einem Vergleich fortsetzen, wenn eine Vereinbarung dahin gehend erreicht wird, dass das überschuldete Unternehmen einen Teil seiner Schulden begleicht und ihm dafür der Rest erlassen wird.
Rz. 7
Der Generaldirektor von Frucona Košice hatte sich am 16. Dezember 2003 sowie am 23. und 30. Januar 2004 mit Vertretern der slowakischen Generaldirektion für Steuern und dem slowakischen Finanzminister getroffen, um ihnen insbesondere vorzuschlagen, die steuerlichen Verpflichtungen des Unternehmens durch einen Vergleich festzulegen.
Rz. 8
Am 8. Januar 2004 war Frucona Košice hierzu auch an das für sie zuständige Amt in Košice IV (im Folgenden: örtliche Steuerbehörde) herangetreten, das nichts gegen einen Vergleich einzuwenden hatte.
Rz. 9
Am 8. März 2004 reichte Frucona Košice beim Krajský súd v Košiciach (Bezirksgericht Košice) (Slowakei) einen Antrag auf Eröffnung eines Vergleichsverfahrens ein und schlug ihren Gläubigern vor, jedem von ihnen 35 % des geschuldeten Betrags zu zahlen (im Folgenden: Vergleichsvorschlag). Die gesamten Schulde...