Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Wettbewerb. Missbrauch einer beherrschenden Stellung. Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Kommission und den nationalen Wettbewerbsbehörden. Entfallen der Zuständigkeit der nationalen Wettbewerbsbehörden. Grundsatz ne bis in idem
Normenkette
AEUV Art. 102; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 50; Verordnung (EG) Nr. 1/2003 Art. 11 Abs. 6
Beteiligte
Protimonopolný úrad Slovenskej republiky |
Tenor
1. Art. 11 Abs. 6 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den [Art. 101 und 102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln ist dahin auszulegen, dass die Zuständigkeit der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten für die Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV entfällt, wenn die Kommission ein Verfahren einleitet, um eine Entscheidung zu erlassen, mit der eine Zuwiderhandlung gegen diese Bestimmungen festgestellt wird, soweit dieser formelle Rechtsakt dieselben von dem- oder denselben Unternehmen auf dem- oder denselben Produktmärkten und dem- oder denselben geografischen Märkten in dem- oder denselben Zeiträumen begangenen mutmaßlichen Zuwiderhandlungen gegen die Art. 101 und 102 AEUV betrifft wie diejenigen, die von dem oder den Verfahren, die zuvor von den Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten eingeleitet worden sind, erfasst sind.
2. Der Grundsatz ne bis in idem, wie er in Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert ist, ist dahin auszulegen, dass er auf wettbewerbsrechtliche Zuwiderhandlungen wie den Missbrauch einer beherrschenden Stellung nach Art. 102 AEUV anwendbar ist und es verbietet, dass ein Unternehmen wegen eines wettbewerbswidrigen Verhaltens, in Bezug auf das es mit einer früheren, nicht mehr anfechtbaren Entscheidung mit einer Sanktion belegt oder für nicht verantwortlich erklärt wurde, erneut verurteilt oder verfolgt wird. Dieser Grundsatz gilt hingegen nicht, wenn ein Unternehmen wegen Zuwiderhandlungen gegen Art. 102 AEUV, die unterschiedliche Produktmärkte oder geografische Märkte betreffen, selbständig und unabhängig von der Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats und der Europäischen Kommission verfolgt oder mit Sanktionen belegt wird oder wenn die Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats nach Art. 11 Abs. 6 Satz 1 der Verordnung Nr. 1/2003 ihre Zuständigkeit verliert.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Najvyšší súd Slovenskej republiky (Oberstes Gericht der Slowakischen Republik) mit Entscheidung vom 12. November 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 26. November 2019, in dem Verfahren
Slovak Telekom a.s.
gegen
Protimonopolný úrad Slovenskej republiky
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Wahl, der Präsidentin der Dritten Kammer A. Prechal (Berichterstatterin) und des Richters J. Passer,
Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Slovak Telekom a.s., vertreten durch J. Hajdúch, advokát,
- des Protimonopolný úrad Slovenskej republiky, vertreten durch T. Menyhart als Bevollmächtigten,
- der slowakischen Regierung, vertreten durch B. Ricziová als Bevollmächtigte,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte und im Beistand von S. Fiorentino, avvocato dello Stato,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Farley, R. Lindenthal und L. Wildpanner als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 11 Abs. 6 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den [Art. 101 und 102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1) und von Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht in einem Rechtsstreit zwischen der Slovak Telekom a.s. (im Folgenden: ST) und dem Protimonopolný úrad Slovenskej republiky (Monopolbekämpfungsbehörde der Slowakischen Republik, im Folgenden: slowakische Wettbewerbsbehörde) betreffend die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung, mit der gegen ST eine Geldbuße verhängt wurde, weil sie ihre beherrschende Stellung im Sinne von Art. 102 AEUV missbraucht haben soll, indem sie auf den Endkundentelekommunikationsmärkten und dem Vorleistungsmarkt für Zusammenschaltungen zu einer Margenbeschneidung führende Preise anwandte.
Rechtlicher Rahmen
Verordnung Nr. 1/2003
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 6, 8 und 17 der Verordnung Nr. 1/2003 heißt es:
„(6) Die wirksame Anwendung der Wettbewerbsregeln der [Union] setzt voraus, dass die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten stärker an der Anwendung beteiligt werden. Dies wiederum bedeutet, dass sie zur Anwendung des [Unionsrechts] bef...