Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Unionsbürgerschaft. Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats und eines Drittstaats. Erwerb der Staatsangehörigkeit eines Drittstaats. Verlust der Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaats und der Unionsbürgerschaft kraft Gesetzes. Möglichkeit, die Beibehaltung der Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaats vor Erwerb der Staatsangehörigkeit eines Drittstaats zu beantragen. Einzelfallprüfung der Folgen des Verlusts der Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaats im Hinblick auf das Unionsrecht. Umfang
Normenkette
AEUV Art. 20
Beteiligte
Stadt Duisburg (Perte de la nationalité allemande) |
Tenor
Art. 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, die vorsieht, dass im Fall des freiwilligen Erwerbs der Staatsangehörigkeit eines Drittstaats die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats kraft Gesetzes verloren geht, was für Personen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzen, zum Verlust der Unionsbürgerschaft führt, es sei denn, diese Personen erhalten von den zuständigen Behörden nach einer Einzelfallprüfung ihrer Situation, bei der die betroffenen öffentlichen und privaten Belange abgewogen werden, vor dem Erwerb der Staatsangehörigkeit des Drittstaats die Genehmigung, ihre Staatsangehörigkeit beizubehalten. Die Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht setzt jedoch zum einen voraus, dass diese Personen innerhalb einer angemessenen Frist effektiven Zugang zu dem in dieser Regelung vorgesehenen Verfahren für die Beibehaltung der Staatsangehörigkeit hatten und ordnungsgemäß über dieses Verfahren unterrichtet wurden, und zum anderen, dass dieses Verfahren eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Folgen des Verlusts dieser Staatsangehörigkeit im Hinblick auf das Unionsrecht durch die zuständigen Behörden umfasst. Andernfalls müssen diese Behörden sowie die gegebenenfalls angerufenen Gerichte in der Lage sein, eine solche Prüfung inzident im Rahmen eines Antrags der betroffenen Personen auf Ausstellung eines Reisedokuments oder jeglichen anderen Dokuments zur Bescheinigung ihrer Staatsangehörigkeit oder gegebenenfalls im Rahmen eines Verfahrens zur Feststellung des Verlusts der Staatsangehörigkeit durchzuführen, wobei die genannten Behörden und Gerichte gegebenenfalls in der Lage sein müssen, diese Staatsangehörigkeit rückwirkend wiederherzustellen.
Tatbestand
In den verbundenen Rechtssachen C-684/22 bis C-686/22
betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgericht Düsseldorf (Deutschland) mit Entscheidungen vom 3. November 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 8. November 2022, in den Verfahren
S. Ö.
gegen
Stadt Duisburg(C-684/22)
und
N. Ö.,
M. Ö.
gegen
Stadt Wuppertal(C-685/22)
sowie
M. S.,
S. S.
gegen
Stadt Krefeld(C-686/22)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos (Berichterstatter), der Richterin O. Spineanu-Matei, der Richter J.-C. Bonichot und S. Rodin sowie der Richterin L. S. Rossi,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von M. S. und S. S., vertreten durch Rechtsanwältin B. Steeger,
- – der Stadt Krefeld, vertreten durch S. Wolf als Bevollmächtigten,
- – der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte,
- – der estnischen Regierung, vertreten durch M. Kriisa als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und E. Montaguti als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. Dezember 2023
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 20 AEUV.
Rz. 2
Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von drei Rechtsstreitigkeiten zwischen S. Ö. und der Stadt Duisburg (Deutschland), zwischen N. Ö. und M. Ö. auf der einen und der Stadt Wuppertal (Deutschland) auf der anderen Seite sowie zwischen M. S. und S. S. auf der einen und der Stadt Krefeld (Deutschland) auf der anderen Seite wegen des Verlusts der deutschen Staatsangehörigkeit der Kläger in diesen Rechtsstreitigkeiten.
Rechtlicher Rahmen
Völkerrecht
Rz. 3
Das am 6. November 1997 im Rahmen des Europarats geschlossene und am 1. März 2000 in Kraft getretene Europäische Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit (im Folgenden: Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit) wurde von der Bundesrepublik Deutschland am 11. Mai 2005 ratifiziert.
Rz. 4
Art. 7 („Verlust der Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes oder auf Veranlassung eines Vertragsstaats“) des Übereinkommens über die Staatsangehörigkeit bestimmt:
„Ein Vertragsstaat darf in seinem innerstaatlichen Recht nicht den Verlust der Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes oder auf seine Veranlassung vorsehen, außer in folgenden Fällen:
a) freiwilliger Erwerb einer anderen Staatsangehörigkeit;
…
e)...