Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Umwelt. Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten. Unter Anhang II fallende Projekte. Städtebauprojekte. Prüfung anhand von Schwellenwerten oder Kriterien. Relevante Auswahlkriterien des Anhangs III. Zugang zu den Gerichten
Normenkette
Richtlinie 2011/92/EU Art. 2 Abs. 1, Art. 4 Abs. 2-3, Art. 11
Beteiligte
Wertlnvest Hotelbetriebs GmbH |
Tenor
1.Art. 2 Abs. 1, Art. 4 Abs. 2 Buchst. b und Abs. 3, Anhang II Nr. 10 Buchst. b sowie Anhang III der Richtlinie 2011/92/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten in der Fassung der Richtlinie 2014/52/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014
sind dahin auszulegen, dass
sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die die Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung für „Städtebauvorhaben“ zum einen von der Überschreitung der Schwellenwerte im Ausmaß einer Flächeninanspruchnahme von mindestens 15 ha und einer Bruttogeschoßfläche von mehr als 150 000 m² und zum anderen davon abhängig macht, dass es sich um ein Erschließungsvorhaben zur gesamthaften multifunktionalen Bebauung, zumindest mit Wohn- und Geschäftsbauten einschließlich der hierfür vorgesehenen Erschließungsstraßen und Versorgungseinrichtungen mit einem über das Gebiet des Vorhabens hinaus reichenden Einzugsbereich, handelt.
2.Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/92 in der Fassung der Richtlinie 2014/52
ist dahin auszulegen, dass
die zuständige Behörde im Rahmen einer Einzelfalluntersuchung, ob ein Vorhaben möglicherweise erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt hat und deshalb einer Umweltverträglichkeitsprüfung zu unterziehen ist, das betreffende Projekt im Hinblick auf alle in Anhang III der geänderten Richtlinie 2011/92 genannten Auswahlkriterien zu untersuchen hat, um die im Einzelfall relevanten Kriterien zu bestimmen, und sodann alle diese für den Einzelfall relevanten Kriterien heranziehen muss.
3.Art. 11 der Richtlinie 2011/92 in der Fassung der Richtlinie 2014/52
ist dahin auszulegen, dass
er dem nicht entgegensteht, dass die in Art. 4 Abs. 2 Buchst. a der geänderten Richtlinie 2011/92 vorgesehene Einzelfalluntersuchung erstmals durch ein Gericht erfolgt, das für die Erteilung einer Genehmigung im Sinne von Art. 1 Abs. 2 Buchst. c der geänderten Richtlinie 2011/92 zuständig ist.
Ein zur „betroffenen Öffentlichkeit“ im Sinne von Art. 1 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2011/92 gehörender Einzelner, der die Kriterien des nationalen Rechts in Bezug auf ein „ausreichendes Interesse“ oder gegebenenfalls eine „Rechtsverletzung“ im Sinne von Art. 11 der Richtlinie erfüllt, muss allerdings Zugang zu einem Überprüfungsverfahren vor einem anderen Gericht oder einer anderen auf gesetzlicher Grundlage geschaffenen unabhängigen und unparteiischen Stelle haben, um die materiell-rechtliche und verfahrensrechtliche Rechtmäßigkeit der von einem solchen Gericht erlassenen Entscheidung anzufechten, mit der festgestellt wird, dass keine Umweltverträglichkeitsprüfung vorzunehmen sei.
4.Die Richtlinie 2011/92 in der Fassung der Richtlinie 2014/52
ist dahin auszulegen, dass
sie es verbietet, vor oder neben der Durchführung einer notwendigen Umweltverträglichkeitsprüfung bzw. vor Abschluss einer Einzelfalluntersuchung der Umweltauswirkungen, mit der die Notwendigkeit einer Umweltverträglichkeitsprüfung geklärt werden soll, Baubewilligungen für einzelne Baumaßnahmen zu erteilen, die einen Teil umfassenderer Städtebauprojekte bilden.
Tatbestand
In der Rechtssache C-575/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgericht Wien (Österreich) mit Entscheidung vom 14. September 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 20. September 2021, in dem Verfahren
Wertlnvest Hotelbetriebs GmbH
gegen
Magistrat der Stadt Wien,
Beteiligter:
Verein Alliance for Nature,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richterin M. L. Arastey Sahún sowie der Richter F. Biltgen, N. Wahl und J. Passer (Berichterstatter),
Generalanwalt: A. M. Collins,
Kanzler: S. Beer, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. September 2022,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – der WertInvest Hotelbetriebs GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt K. Liebenwein und Rechtsanwältin L. Pöcho,
- – des Magistrats der Stadt Wien, vertreten durch Senatsrat G. Cech,
- – des Vereins Alliance for Nature, vertreten durch Rechtsanwälte W. Proksch und P. Pyka,
- – der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Kögl, W. Petek, A. Posch und J. Schmoll als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Hermes und M. Noll-Ehlers als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 24. November 2022
folg...