Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Verwertung von Finanzsicherheiten. Einleitung eines Insolvenzverfahrens gegenüber dem Finanzsicherheitsnehmer. Eintritt des Verwertungs- bzw. Beendigungsfalls. Zurechnung der Finanzsicherheit zur Insolvenzmasse. Verpflichtung, die Forderungen zuerst aus der Finanzsicherheit zu befriedigen
Normenkette
Richtlinie 2002/47/EG
Beteiligte
Tenor
1. Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 2002/47/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juni 2002 über Finanzsicherheiten in der durch die Richtlinie 2009/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, eine Regelung zu erlassen, wonach der Sicherungsnehmer einer Finanzsicherheit in Form eines beschränkten dinglichen Rechts seine Forderung, die aufgrund der Nichterfüllung der besicherten Verbindlichkeiten entstanden ist, aus dieser Sicherheit befriedigen kann, wenn der Verwertungs- bzw. Beendigungsfall der Sicherheit nach der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens gegenüber dem Sicherungsnehmer eintritt.
2. Art. 4 Abs. 1 und 5 der Richtlinie 2002/47 in der durch die Richtlinie 2009/44 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er den Sicherungsnehmer einer Finanzsicherheit in Form eines beschränkten dinglichen Rechts nicht verpflichtet, seine Forderung, die aufgrund der Nichterfüllung der durch diese Sicherheit besicherten Verbindlichkeiten entstanden ist, vorrangig aus dieser Sicherheit zu befriedigen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberster Gerichtshof, Litauen) mit Entscheidung vom 24. Februar 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 3. März 2017, in dem Verfahren
„Aviabaltika” UAB
gegen
„Ūkio bankas” AB, in Liquidation,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz (Berichterstatter), der Richter C. Vajda und E. Juhász, der Richterin K. Jürimäe sowie des Richters C. Lycourgos,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 18. Januar 2018,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der „Aviabaltika” UAB, vertreten durch E. Baranauskas, advokatas,
- der „Ūkio bankas” AB, vertreten durch T. Bairašauskas und D. Ušinskaitė-Filonovienė, advokatai,
- der litauischen Regierung, vertreten durch K. Dieninis, D. Kriaučiūnas, L. Bendoraitytė und R. Butvydytė als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Rius, A. Nijenhuis und A. Steiblytė als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. April 2018
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 und 5 sowie von Art. 8 der Richtlinie 2002/47/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juni 2002 über Finanzsicherheiten (ABl. 2002, L 168, S. 43) in der durch die Richtlinie 2009/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 (ABl. 2009, L 146, S. 37) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2002/47).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der „Aviabaltika” UAB und der „Ūkio bankas” AB wegen einer Zahlungsaufforderung des Bankinstituts Ūkio bankas an Aviabaltika, die in Durchführung der Vereinbarungen über die Bestellung von Sicherheiten erfolgte, die die Parteien untereinander geschlossen hatten.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Der dritte Erwägungsgrund der Richtlinie 2002/47 lautet:
„Es sollte eine gemeinschaftsweite Regelung für die Bereitstellung von Wertpapieren und Barguthaben als Sicherheit in Form eines beschränkten dinglichen Sicherungsrechts oder im Wege der Vollrechtsübertragung, einschließlich Wertpapierpensionsgeschäften (Repos), geschaffen werden. Dies wird zu einer weiteren Integration und höheren Kostenwirksamkeit des Finanzmarkts sowie zur Stabilität des Finanzsystems in der Gemeinschaft beitragen und dadurch den freien Dienstleistungs- und Kapitalverkehr im Finanzbinnenmarkt fördern. Im Zentrum dieser Richtlinie stehen zweiseitige Vereinbarungen über die Bestellung von Finanzsicherheiten.”
Rz. 4
Art. 2 „Begriffsbestimmungen”) der Richtlinie bestimmt in ihrem Abs. 1:
„Für die Zwecke dieser Richtlinie gelten folgende Begriffsbestimmungen:
…
c) ‚Finanzsicherheit in Form eines beschränkten dinglichen Rechts’ ist ein Sicherungsrecht an einem Finanzaktivum durch einen Sicherungsgeber, wobei das volle oder bedingte/beschränkte Eigentum oder die Inhaberschaft an der Sicherheit zum Zeitpunkt der Bestellung beim Sicherungsgeber verbleibt.
…
f) ‚Maßgebliche Verbindlichkeiten’ sind Verbindlichkeiten, die durch Finanzsicherheiten besichert sind und ein Recht auf Barzahlung und/oder Lieferung von Finanzinstrumenten begründen.
…
j) ‚Liquidationsverfahren’ ist ein Gesamtverfahren, bei dem das Vermögen verwertet und der Erlös in angem...