Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Eilvorabentscheidungsverfahren. Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Europäischer Haftbefehl. Rahmenbeschluss 2002/584/JI. Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten. Vollstreckungsvoraussetzungen. Recht auf Zugang zu einem unabhängigen und unparteiischen Gericht
Normenkette
Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 47
Beteiligte
Minister for Justice and Equality (Défaillances du système judiciaire) |
Tenor
Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die vollstreckende Justizbehörde, die über die Übergabe einer Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl zum Zwecke der Strafverfolgung ergangen ist, zu entscheiden hat, wenn sie über Anhaltspunkte – wie diejenigen in einem begründeten Vorschlag der Europäischen Kommission nach Art. 7 Abs. 1 EUV – dafür verfügt, dass wegen systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz des Ausstellungsmitgliedstaats eine echte Gefahr der Verletzung des in Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verbürgten Grundrechts auf ein faires Verfahren besteht, konkret und genau prüfen muss, ob es in Anbetracht der persönlichen Situation dieser Person sowie der Art der strafverfolgungsbegründenden Straftat und des Sachverhalts, auf denen der Europäische Haftbefehl beruht, und unter Berücksichtigung der Informationen, die der Ausstellungsmitgliedstaat gemäß Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in geänderter Fassung mitgeteilt hat, ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die besagte Person im Fall ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom High Court (Hoher Gerichtshof, Irland) mit Entscheidung vom 23. März 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 27. März 2018, in dem Verfahren betreffend die Vollstreckung von Europäischen Haftbefehlen gegen
LM
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin), der Kammerpräsidenten M. Ilešič, J. L. da Cruz Vilaça, J. Malenovský, E. Levits und C. G. Fernlund sowie der Richter A. Borg Barthet, J.-C. Bonichot, A. Arabadjiev, S. Rodin, F. Biltgen, C. Lycourgos und E. Regan,
Generalanwalt: E. Tanchev,
Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des Antrags des vorlegenden Gerichts vom 23. März 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 27. März 2018, das Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs dem Eilverfahren zu unterwerfen,
aufgrund der Entscheidung der Ersten Kammer vom 12. April 2018, diesem Antrag stattzugeben,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 1. Juni 2018,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- des Minister for Justice and Equality, vertreten durch M. Browne als Bevollmächtigte im Beistand von S. Ní Chúlacháin, BL, R. Farrell, SC, und K. Colmcille, BL,
- von LM, vertreten durch C. Ó Maolchallann, Solicitor, M. Lynam, BL, S. Guerin, SC, und D. Stuart, BL,
- der spanischen Regierung, vertreten durch M. A. Sampol Pucurull als Bevollmächtigten,
- der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér als Bevollmächtigten,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman als Bevollmächtigte,
- der polnischen Regierung, vertreten durch L. Piebiak, B. Majczyna und J. Sawicka als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Tomkin, H. Krämer, B. Martenczuk, R. Troosters und K. Banks als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 28. Juni 2018
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen der Vollstreckung von Europäischen Haftbefehlen, die polnische Gerichte gegen LM (im Folgenden: Betroffener) erlassen haben, in Irland.
Rechtlicher Rahmen
EU-Vertrag
Rz. 3
Art. 7 EUV bestimmt:
„(1) Auf begründeten Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments oder der Europäischen Kommission kann der Rat mit der Mehrheit von vier Fünfteln seiner Mitglieder nach Zustimmung des Europäischen Parlaments feststellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in...