Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Sozialpolitik. Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers. Begriffe der nicht erfüllten Arbeitnehmeransprüche und der Zahlungsunfähigkeit eines Arbeitgebers. Arbeitsunfall. Tod des Arbeitnehmers. Ersatz des immateriellen Schadens. Einbringung der Forderung beim Arbeitgeber. Unmöglichkeit. Garantieeinrichtung
Normenkette
Richtlinie 2008/94/EG Art. 2-3
Beteiligte
Tenor
1. Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2008/94/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2008 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers ist dahin auszulegen, dass ein Arbeitgeber nicht als „zahlungsunfähig” gelten kann, wenn gegen ihn ein Antrag auf Durchführung der Zwangsvollstreckung im Zusammenhang mit einem gerichtlich zuerkannten Schadensersatzanspruch gestellt wurde, die Forderung aber im Vollstreckungsverfahren wegen seiner faktischen Zahlungsunfähigkeit für uneinbringlich erklärt wurde. Das vorlegende Gericht hat jedoch zu prüfen, ob der betreffende Mitgliedstaat gemäß Art. 2 Abs. 4 dieser Richtlinie beschlossen hat, den in der Richtlinie vorgesehenen Schutz der Arbeitnehmer auf eine solche Zahlungsunfähigkeit, die nach anderen im einzelstaatlichen Recht vorgesehenen Verfahren als den in Art. 2 Abs. 1 genannten Verfahren festgestellt worden ist, auszuweiten.
2. Art. 1 Abs. 1 und Art. 3 der Richtlinie 2008/94/EG sind dahin auszulegen, dass Schadensersatz, den ein Arbeitgeber Hinterbliebenen für den infolge des arbeitsunfallbedingten Todes eines Arbeitnehmers erlittenen immateriellen Schaden schuldet, nur dann unter „Ansprüche von Arbeitnehmern aus Arbeitsverträgen oder Arbeitsverhältnissen” im Sinne von Art. 1 Abs. 1 dieser Richtlinie subsumiert werden kann, wenn er unter den Begriff „Arbeitsentgelt” im Sinne des nationalen Rechts fällt, was vom nationalen Gericht zu klären ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Okresný súd Košice I (Bezirksgericht Košice I, Slowakei) mit Entscheidung vom 5. August 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 30. Oktober 2019, in dem Verfahren
NI,
OJ,
PK
gegen
Sociálna poisťovňa
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin der Dritten Kammer A. Prechal (Berichterstatterin) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Achten Kammer, des Richters F. Biltgen und der Richterin L. S. Rossi,
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von NI, OJ und PK, vertreten durch P. Kerecman, advokát,
- der slowakischen Regierung, vertreten durch B. Ricziová als Bevollmächtigte,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Pavliš und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
- Irlands, vertreten durch M. Browne, G. Hodge und T. Joyce als Bevollmächtigte im Beistand von K. Binchy, BL,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Tokár und B.-R. Killmann als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 2 und 3 der Richtlinie 2008/94/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2008 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers (ABl. 2008, L 283, S. 36).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen NI, OJ und PK – der Ehefrau und den beiden Kindern des Arbeitnehmers RL – auf der einen Seite und der Sociálna poisťovňa (Sozialversicherungsanstalt, Slowakei) auf der anderen Seite wegen der Weigerung Letzterer, den Erstgenannten immateriellen Schadensersatz für den am 16. Oktober 2003 nach einem Arbeitsunfall eingetretenen Tod von RL zu zahlen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Im dritten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/94 wird ausgeführt:
„Es sind Bestimmungen notwendig, die die Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers schützen und um ihnen ein Minimum an Schutz zu sichern, insbesondere die Zahlung ihrer nicht erfüllten Ansprüche zu gewährleisten; dabei muss die Notwendigkeit einer ausgewogenen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in der Gemeinschaft berücksichtigt werden. Deshalb sollten die Mitgliedstaaten eine Einrichtung schaffen, die die Befriedigung der nicht erfüllten Arbeitnehmeransprüche garantiert.”
Rz. 4
Im vierten Erwägungsgrund dieser Richtlinie heißt es:
„Zur Gewährleistung eines angemessenen Schutzes der betroffenen Arbeitnehmer ist es angebracht, den Begriff der Zahlungsunfähigkeit im Lichte der Rechtsentwicklung in den Mitgliedstaaten auf diesem Sachgebiet zu bestimmen und mit diesem Begriff auch andere Insolvenzverfahren als Liquidationsverfahren zu erfassen. …”
Rz. 5
Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:
„Diese Richtlinie gilt für Ansprüche von Arbeitnehmern aus Arbeitsverträgen oder Arbeitsverhä...