Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Freier Warenverkehr. Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung. Humanarzneimittel. Parallelimport von Arzneimitteln. Regelung eines Mitgliedstaats, nach der die Genehmigung für den Parallelimport ein Jahr nach Erlöschen der Genehmigung für das Inverkehrbringen des Referenzarzneimittels von Rechts wegen erlischt. Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen. Verhältnismäßigkeit. Pharmakovigilanz
Normenkette
AEUV Art. 34, 36; Richtlinie 2001/83/EG
Beteiligte
Prezes Urzędu Rejestracji Produktów Leczniczych, Wyrobów Medycznych i Produktów Biobójczych |
Tenor
Die Art. 34 und 36 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der eine Genehmigung für den Parallelimport eines Arzneimittels ein Jahr nach Erlöschen der Bezugszulassung von Rechts wegen erlischt, ohne dass geprüft wird, ob eine Gefahr für die Gesundheit und das Leben von Menschen besteht. Der Umstand, dass die Parallelimporteure von der Verpflichtung zur Vorlage regelmäßiger Unbedenklichkeitsberichte befreit sind, rechtfertigt für sich allein nicht den Erlass einer dahin gehenden Entscheidung.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Wojewódzki Sąd Administracyjny w Warszawie (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Warschau, Polen) mit Entscheidung vom 9. September 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 2. Oktober 2020, in dem Verfahren
Delfarma sp. z o.o.
gegen
Prezes Urzędu Rejestracji Produktów Leczniczych, Wyrobów Medycznych i Produktów Biobójczych
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin der Zweiten Kammer A. Prechal in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Dritten Kammer, der Richter J. Passer und F. Biltgen, der Richterin L. S. Rossi und des Richters N. Wahl (Berichterstatter),
Generalanwalt: E. Tanchev,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 7. Juli 2021,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Delfarma sp. z o.o., vertreten durch J. Dudzik, Radca prawny,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, T. Lisiewski und M. Wiącek als Bevollmächtigte,
- der deutschen Regierung, vertreten durch D. Klebs als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch K. Herrmann, L. Haasbeek, A. Sipos, F. Thiran und L. Habiak als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 34 und 36 AEUV.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Delfarma sp. z o.o. und dem Prezes Urzędu Rejestracji Produktów Leczniczych, Wyrobów Medycznych i Produktów Biobójczych (Leiter der Behörde für die Zulassung von Arzneimitteln, medizinischen Erzeugnissen und Biozidprodukten, Polen) (im Folgenden: Behördenleiter) wegen eines Bescheids, mit dem das Erlöschen einer Genehmigung für den Parallelimport eines Arzneimittels festgestellt wird.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2001/83/EG
Rz. 3
Nach Art. 1 Nr. 28d der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel (ABl. 2001, L 311, S. 67, sowie Berichtigung ABl. 2014, L 239, S. 81) in der durch die Richtlinie 2012/26/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 (ABl. 2012, L 299, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2001/83) bedeutet „Pharmakovigilanz-System” ein „System, das der Inhaber der Genehmigung für das Inverkehrbringen und die Mitgliedstaaten anwendet, um den in Titel IX aufgeführten Aufgaben und Pflichten nachzukommen und das der Überwachung der Sicherheit genehmigter Arzneimittel und der Entdeckung sämtlicher Änderungen des Nutzen-Risiko-Verhältnisses dient”.
Rz. 4
Titel IX („Pharmakovigilanz”) der Richtlinie 2001/83 enthält deren Art. 101 bis 108.
Rz. 5
Art. 101 der Richtlinie bestimmt:
„(1) Um ihren Pharmakovigilanz-Aufgaben nachzukommen und an Pharmakovigilanz-Aktivitäten der Union teilzunehmen, betreiben die Mitgliedstaaten ein Pharmakovigilanz-System.
Das Pharmakovigilanz-System dient dazu, Informationen über die Risiken von Arzneimitteln für die Gesundheit der Patienten oder die öffentliche Gesundheit zusammenzutragen. Diese Informationen betreffen insbesondere Nebenwirkungen beim Menschen, die bei genehmigungsgemäßer Anwendung des Arzneimittels sowie bei einer Anwendung, die über die Bestimmungen der Genehmigung für das Inverkehrbringen hinausgeht, entstehen, und Nebenwirkungen in Verbindung mit beruflicher Exposition gegenüber dem Arzneimittel.
(2) Die Mitgliedstaaten müssen anhand des Pharmakovigilanz-Systems gemäß Absatz 1 sämtliche Informationen wissenschaftlich auswerten, Möglichkeiten der Risikominimierung und -vermeidung prüfen und gegebenenfalls Regelungen im H...