Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Gegenseitige Anerkennung von Urteilen und Bewährungsentscheidungen. Anwendungsbereich. Urteil, mit dem eine zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe verhängt wird. Bewährungsmaßnahme. Verpflichtung, keine neue Straftat zu begehen. Gesetzlich begründete Verpflichtung
Beteiligte
Tenor
Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2008/947/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile und Bewährungsentscheidungen im Hinblick auf die Überwachung von Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 Buchst. d dieses Rahmenbeschlusses ist dahin auszulegen, dass die Anerkennung eines Urteils, mit dem eine Freiheitsstrafe verhängt wurde, deren Vollstreckung allein unter der Voraussetzung ausgesetzt wurde, dass eine rechtliche Verpflichtung eingehalten wird, während einer Bewährungszeit keine neue Straftat zu begehen, in den Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses fällt, sofern sich diese rechtliche Verpflichtung aus dem Urteil oder aus einer auf dessen Grundlage ergangenen Bewährungsentscheidung ergibt, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Riigikohus (Oberstes Gericht, Estland) mit Entscheidung vom 11. Dezember 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 4. Januar 2019, in dem Strafverfahren gegen
A. P.
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot, der Richter M. Safjan und L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Richterin C. Toader sowie des Richters N. Jääskinen,
Generalanwalt: M. Bobek,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. November 2019,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von A. P., vertreten durch M. Lentsius und G. Sile, vandeadvokaadid,
- der estnischen Regierung, vertreten durch N. Grünberg als Bevollmächtigte,
- der lettischen Regierung, vertreten durch V. Soneca, L. Juškeviča und I. Kucina als Bevollmächtigte,
- der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér, M. M. Tátrai und V. Kiss als Bevollmächtigte,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und J. Sawicka als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und K. Toomus als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. Februar 2020
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Rahmenbeschlusses 2008/947/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile und Bewährungsentscheidungen im Hinblick auf die Überwachung von Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen (ABl. 2008, L 337, S. 102).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Verfahrens über die Anerkennung eines Urteils des Rīgas pilsētas Latgales priekšpilsētas tiesa (Gericht der Stadt Riga, Bezirk Latgale, Lettland) in Estland, mit dem A. P. zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt wurde, deren Vollstreckung ausgesetzt wurde.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 8 und 24 des Rahmenbeschlusses 2008/947 heißt es:
„(8) Die gegenseitige Anerkennung und Überwachung von Bewährungsstrafen, bedingten Verurteilungen, alternativen Sanktionen und Entscheidungen über bedingte Entlassungen soll die Aussichten auf Resozialisierung der verurteilten Person erhöhen, indem ihr die Möglichkeit verschafft wird, die familiären, sprachlichen, kulturellen und sonstigen Beziehungen aufrechtzuerhalten; es soll aber auch die Kontrolle der Einhaltung von Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen verbessert werden mit dem Ziel, neue Straftaten zu unterbinden und damit dem Gedanken des Opferschutzes und des Schutzes der Allgemeinheit Rech[n]ung zu tragen.
…
(24) Da die Ziele dieses Rahmenbeschlusses, nämlich die Erleichterung der Resozialisierung einer verurteilten Person, die Verbesserung des Opferschutzes und des Schutzes der Allgemeinheit sowie die Erleichterung der Anwendung angemessener Bewährungsmaßnahmen und alternativer Sanktionen auf Straftäter, die nicht im Urteilsmitgliedstaat leben, wegen des grenzüberschreitenden Charakters der damit verbundenen Situationen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden können und daher wegen des Umfangs der Maßnahme besser auf Unionsebene zu verwirklichen sind, kann die Union im Einklang mit dem … Subsidiaritätsprinzip … tätig werden …”
Rz. 4
Art. 1 Abs. 1 und 2 des Rahmenbeschlusses lautet:
„(1) Ziel dieses Rahmenbeschlusses ist die Erleichterung der Resozialisierung einer verurteilten Person, die Verbesserung des Opferschutzes und des Schutzes der Allgemeinheit sowie die Erleichterung der Anwendung angemessener Bewährungsmaßnahmen und alternativer Sanktionen auf Straftäter, die nicht im Urteilsstaat leben. Um diese Ziele zu erreichen, werden in dies...