Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Öffentliche Aufträge. Ausschluss eines Bieters vom Vergabeverfahren. Ausschluss der Möglichkeit, die ursprüngliche Zahl der Mitglieder der Bietergemeinschaft, die ein Angebot eingereicht hat, zu reduzieren. Unvereinbarkeit. Gültigkeitsdauer eines Angebots. Kein Erlöschen des abgelaufenen Angebots. Nach der Rechtsprechung bestehende Pflicht, von diesem Angebot ausdrücklich zurückzutreten. Verlust der dem Angebot beigefügten vorläufigen Kaution. Automatische Anwendung dieser Maßnahme. Grundsätze der Vergabe öffentlicher Aufträge. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Grundsatz der Gleichbehandlung. Transparenzgebot. Verstoß
Normenkette
Richtlinie 2004/18/EG Art. 47 Abs. 3, Art. 48 Abs. 4
Beteiligte
Tenor
1.Art. 47 Abs. 3 und Art. 48 Abs. 4 der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge in Verbindung mit dem allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
sind dahin auszulegen, dass
sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die es den ursprünglichen Mitgliedern einer Bietergemeinschaft verwehrt, aus dieser Bietergemeinschaft auszutreten, wenn die Gültigkeitsdauer des von dieser Bietergemeinschaft eingereichten Angebots abgelaufen ist und der öffentliche Auftraggeber um die Verlängerung der Gültigkeit der bei ihm eingereichten Angebote ersucht, sofern zum einen erwiesen ist, dass die übrigen Mitglieder dieser Bietergemeinschaft die von dem Auftraggeber festgelegten Anforderungen erfüllen, und zum anderen, dass ihre weitere Teilnahme an diesem Verfahren nicht zu einer Beeinträchtigung der Wettbewerbssituation der übrigen Bieter führt.
2.Die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung sowie das Transparenzgebot, wie sie in Art. 2 und im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/18 niedergelegt sind,
sind dahin auszulegen, dass
sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die die automatische Einbehaltung der von einem Bieter gestellten vorläufigen Kaution als Folge seines Ausschlusses von einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Dienstleistungsvertrags vorsieht, auch wenn er den betreffenden Zuschlag nicht erhalten hat.
Tatbestand
In den verbundenen Rechtssachen C-403/23 und C-404/23
betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) mit Entscheidungen vom 16. Juni 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 30. Juni und am 3. Juli 2023, in den Verfahren
Luxone Srl,handelnd im eigenen Namen und als Bevollmächtigte der mit der Iren Smart Solutions SpA zu gründenden Bietergemeinschaft (C-403/23),
Sofein SpA,vormals Gi One SpA (C-404/23),
gegen
Consip SpA,
Beteiligte:
Elba Compagnia di Assicurazioni e Riassicurazioni SpA,
Sofein SpA,vormals Gi One SpA (C-403/23),
Iren Smart Solutions SpA,
Consorzio Stabile Energie Locali Scarl,
City Green Light Srl,
Enel Sole Srl,
Luxone Srl(C-404/23),
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Piçarra sowie der Richter N. Jääskinen und M. Gavalec (Berichterstatter),
Generalanwalt: P. Pikamäe,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – der Luxone Srl, handelnd im eigenen Namen und als Bevollmächtigte der mit der Iren Smart Solutions SpA zu gründenden Bietergemeinschaft, sowie der Sofein SpA, vertreten durch P. Leozappa, Avvocato,
- – der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte, im Beistand von A. De Curtis, L. Fiandaca und D. G. Pintus, Avvocati dello Stato,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Gattinara und G. Wils als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge (ABl. 2004, L 134, S. 114, berichtigt in ABl. 2004, L 351, S. 44), des Art. 6 EUV, der Art. 49, 50, 54 und 56 AEUV, der Art. 16, 49, 50 und 52 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie des Art. 4 des am 22. November 1984 in Straßburg unterzeichneten Protokolls Nr. 7 zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten.
Rz. 2
Sie ergehen im Rahmen von zwei Rechtsstreitigkeiten zwischen – in der Rechtssache C-403/23 – der Luxone Srl, die im eigenen Namen und als Bevollmächtigte der mit der Iren Smart Solutions SpA zu gründenden Bietergemeinschaft handelt, bzw. – in der Rechtssache C-404/23 – der Sofein SpA, vormals Gi One SpA, und derselben öffentlichen Auftraggeberin, der Consip SpA, wegen der Entscheidu...