Entscheidungsstichwort (Thema)

Unionsbürgerschaft. Diskriminierungsverbot. In Zivilverfahren anwendbare Sprachenregelung

 

Beteiligte

Grauel Rüffer

Ulrike Elfriede Grauel Rüffer

Katerina Pokorná

 

Tenor

Die Art. 18 AEUV und 21 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, die das Recht, in zivilrechtlichen Verfahren vor den Gerichten eines Mitgliedstaats, die ihren Sitz in einer bestimmten Gebietskörperschaft dieses Staates haben, eine andere Sprache als dessen Amtssprache zu gebrauchen, nur den in der betreffenden Gebietskörperschaft wohnhaften Bürgern dieses Staates einräumt.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landesgericht Bozen (Italien) mit Entscheidung vom 6. Juni 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Juni 2013, in dem Verfahren

Ulrike Elfriede Grauel Rüffer

gegen

Katerina Pokorná

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter J. L. da Cruz Vilaça, G. Arestis, J.-C. Bonichot und A. Arabadjiev,

Generalanwältin: E. Sharpston,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • von Frau Pokorná, vertreten durch die Rechtsanwälte M. Mairhofer und F. Bauer,
  • der Italienischen Republik, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von W. Ferrante, avvocato dello Stato,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch E. Traversa und W. Bogensberger als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 18 AEUV und 21 AEUV.

Rz. 2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Grauel Rüffer und Frau Pokorná wegen Schadensersatz infolge eines Skiunfalls.

Rechtlicher Rahmen

Rz. 3

Art. 122 Abs. 1 der italienischen Zivilprozessordnung (ZPO) bestimmt:

„Im ganzen Verfahren ist der Gebrauch der italienischen Sprache geboten.”

Rz. 4

Art. 156 ZPO sieht vor:

„(1) Die Nichtigkeit der Prozessakten wegen Nichteinhaltung der Formvorschriften kann nicht erklärt werden, wenn diese vom Gesetz nicht vorgesehen ist.

(2) Die Nichtigkeit kann allerdings erklärt werden, falls die zum Erreichen des Zwecks notwendigen formalrechtlichen Voraussetzungen des Prozessaktes fehlen.

(3) Die Nichtigkeit kann nicht erklärt werden, falls der Prozessakt den Zweck, dem er bestimmt ist, erreicht hat.”

Rz. 5

In Abweichung von dieser Regel kann vor den Gerichten der Provinz Bozen in strafrechtlichen, zivilrechtlichen oder verwaltungsrechtlichen Verfahren die deutsche Sprache verwendet werden. Ihr Gebrauch vor diesen Gerichten beruht auf den Art. 99 und 100 des Dekrets Nr. 670 des Präsidenten der Republik vom 31. August 1972 über die Genehmigung des vereinheitlichten Textes der Verfassungsgesetze, die das Sonderstatut für Trentino-Südtirol betreffen (im Folgenden: DPR Nr. 670/1972), sowie auf dem Dekret Nr. 574 des Präsidenten der Republik vom 15. Juli 1988 betreffend Durchführungsbestimmungen zum Sonderstatut für die Region Trentino-Südtirol über den Gebrauch der deutschen und der ladinischen Sprache im Verkehr der Bürger mit der öffentlichen Verwaltung und in den Gerichtsverfahren (im Folgenden: DPR Nr. 574/1988).

Rz. 6

Art. 99 des DPR Nr. 670/1972 bestimmt:

„Die deutsche Sprache ist in der Region der italienischen Sprache, die die amtliche Staatssprache ist, gleichgestellt. In den Akten mit Gesetzeskraft und immer dann, wenn dieses Statut eine zweisprachige Fassung vorsieht, ist der italienische Wortlaut maßgebend.”

Rz. 7

Art. 100 Abs. 1 des DPR Nr. 670/1972 lautet:

„Die deutschsprachigen Bürger der Provinz Bozen haben das Recht, im Verkehr mit den Gerichtsämtern und mit den Organen und Ämtern der öffentlichen Verwaltung, die ihren Sitz in der Provinz haben oder regionale Zuständigkeit besitzen, sowie mit den Konzessionsunternehmen, die in der Provinz öffentliche Dienste versehen, ihre Sprache zu gebrauchen.”

Rz. 8

In Art. 1 Abs. 1 des DPR Nr. 574/1988 heißt es:

„Mit diesem Dekret wird in Anwendung der Bestimmungen des XI. Abschnittes des … Sonderstatutes für Trentino-Südtirol der Gebrauch der deutschen Sprache geregelt. In der Region ist die deutsche Sprache der italienischen Sprache, die die amtliche Staatssprache ist, gleichgestellt:

  1. im Verkehr mit den Organen und Ämtern der öffentlichen Verwaltung und der öffentlichen Körperschaften und Anstalten, die ihren Sitz in der Provinz Bozen haben oder regionale Zuständigkeit besitzen, sowie mit den Konzessionsunternehmen, die in dieser Provinz öffentliche Dienste versehen,
  2. im Verkehr mit den Gerichtsämtern und den ordentlichen Gerichten, den Verwaltungsgerichten und den Steuergerichten, die ihren Sitz in der Provinz Bozen haben,
  3. im Verkehr mit dem Oberlandesgericht, dem Geschworenen-Oberlandesgericht, der Jugendsektion des Oberl...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge