Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung. Verweisung der Sache an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats. Geltungsbereich. Tatbestandsmerkmale. Gericht, das den Fall besser beurteilen kann. Wohl des Kindes

 

Normenkette

Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 Art. 15

 

Beteiligte

J. D

Child and Family Agency

J. D

 

Tenor

1. Art. 15 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 ist dahin auszulegen, dass er auf eine öffentlich-rechtliche Klage einer zuständigen Behörde eines Mitgliedstaats im Bereich des Kinderschutzes, die den Erlass von Maßnahmen betreffend die elterliche Verantwortung zum Gegenstand hat, wie die im Ausgangsverfahren fragliche anwendbar ist, wenn die Entscheidung, mit der sich das Gericht eines anderen Mitgliedstaats für zuständig erklärt, zuvor die Einleitung eines anderen Verfahrens als des im erstgenannten Mitgliedstaat eingeleiteten Verfahrens durch eine Behörde des anderen Mitgliedstaats nach ihrem innerstaatlichen Recht und wegen eines möglicherweise anderen Sachverhalts erfordert.

2. Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 ist dahin auszulegen, dass das zuständige Gericht eines Mitgliedstaats,

  • um beurteilen zu können, ob ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats, zu dem das Kind eine besondere Bindung hat, den Fall besser beurteilen kann, sich vergewissern muss, dass die Verweisung der Sache an ein solches Gericht geeignet ist, für die Prüfung des Falls, insbesondere unter Berücksichtigung der in diesem anderen Mitgliedstaat geltenden Verfahrensvorschriften, einen realen und konkreten Mehrwert zu erbringen;
  • um beurteilen zu können, ob eine solche Verweisung dem Wohl des Kindes entspricht, sich insbesondere vergewissern muss, dass die Verweisung nicht die Gefahr nachteiliger Auswirkungen auf die Lage des Kindes birgt.

3. Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 ist dahin auszulegen, dass das zuständige Gericht eines Mitgliedstaats bei der Anwendung dieser Bestimmung in einem gegebenen Fall, der die elterliche Verantwortung betrifft, weder die Auswirkungen einer möglichen Verweisung der Sache an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats auf das Recht der anderen Beteiligten als des Kindes selbst auf Freizügigkeit noch den Grund berücksichtigen darf, aus dem die Mutter des Kindes vor der Befassung dieses Gerichts von diesem Recht Gebrauch gemacht hat, es sei denn, solche Gesichtspunkte sind geeignet, sich nachteilig auf die Lage des Kindes auszuwirken.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Supreme Court (Oberster Gerichtshof, Irland) mit Entscheidung vom 31. Juli 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 4. August 2015, in dem Verfahren

Child and Family Agency

gegen

J. D.,

Beteiligter:

R. P. D.,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen sowie der Richter M. Vilaras, J. Malenovský (Berichterstatter), M. Safjan und D. Šváby,

Generalanwalt: M. Wathelet,

Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. Mai 2016,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • der Child and Family Agency, vertreten durch L. Jonker, Solicitor, T. O'Leary, SC, und D. Leahy, Barrister,
  • von Frau D., vertreten durch I. Robertson, Solicitor, und M. de Blacam, SC, sowie G. Lee, BL,
  • des Kindes R. P. D., vertreten durch G. Irwin, Solicitor, G. Durcan, SC, S. Fennell, BL, und N. McDonnell, BL,
  • von Irland, vertreten durch E. Creedon, L. Williams und A. Joyce als Bevollmächtigte im Beistand von A. Carroll, BL,
  • der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
  • der slowakischen Regierung, vertreten durch B. Ricziová als Bevollmächtigte,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin als Bevollmächtigten,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. Juni 2016

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 15 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1, mit Berichtigung in ABl. 2016, L 99, S. 34).

Rz. 2

Das Vorabentscheidungsersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Child and Family Agency (Agentur für Kinder und Familien, Irland, im Folgenden: Agentur) und Frau J. D. wegen des Schicksals ihres zweiten Kindes, des Kleinkinds R.

Rechtlicher Rahmen

Rz. 3

In den Er...

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