Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Geistiges Eigentum. Europäisches Patent. Einstweilige Maßnahmen. Befugnis der nationalen Gerichte, eine einstweilige Maßnahme anzuordnen, um eine drohende Verletzung eines Rechts des geistigen Eigentums zu verhindern. Nationale Rechtsprechung, wonach der Erlass einstweiliger Maßnahmen verweigert wird, wenn das in Rede stehende Patent nicht zumindest ein erstinstanzliches Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren überstanden hat. Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung

 

Normenkette

Richtlinie 2004/48/EG Art. 9 Abs. 1

 

Beteiligte

Phoenix Contact

Phoenix Contact GmbH & Co. KG

HARTING Deutschland GmbH & Co. KG

Harting Electric GmbH & Co. KG

 

Tenor

Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2004/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Rechtsprechung entgegensteht, wonach der Erlass einstweiliger Maßnahmen wegen der Verletzung von Patenten grundsätzlich verweigert wird, wenn das in Rede stehende Patent nicht zumindest ein erstinstanzliches Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren überstanden hat.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landgericht München I (Deutschland) mit Entscheidung vom 19. Januar 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Januar 2021, in dem Verfahren

Phoenix Contact GmbH & Co. KG

gegen

HARTING Deutschland GmbH & Co. KG,

Harting Electric GmbH & Co. KG

erlässt

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin I. Ziemele (Berichterstatterin) sowie der Richter P. G. Xuereb und A. Kumin,

Generalanwalt: A. Rantos,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • der Phoenix Contact GmbH & Co. KG, vertreten durch die Rechtsanwälte H. Jacobsen und P. Szynka,
  • der HARTING Deutschland GmbH & Co. KG und der Harting Electric GmbH & Co. KG, vertreten durch Rechtsanwalt T. Müller,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch T. Scharf und S. L. Kaleda als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2004/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums (ABl. 2004, L 157, S. 45, berichtigt in ABl. 2004, L 195, S. 16).

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits, den die Phoenix Contact GmbH & Co. KG gegen die HARTING Deutschland GmbH & Co. KG und die Harting Electric GmbH & Co. KG führt und in dem sie die Verletzung eines europäischen Patents rügt, dessen Inhaberin sie ist.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rz. 3

In den Erwägungsgründen 10, 17 und 22 der Richtlinie 2004/48 heißt es:

„(10) Mit dieser Richtlinie sollen [die] Rechtsvorschriften [der Mitgliedstaaten] einander angenähert werden, um ein hohes, gleichwertiges und homogenes Schutzniveau für geistiges Eigentum im Binnenmarkt zu gewährleisten.

(17) Die in dieser Richtlinie vorgesehenen Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe sollten in jedem Einzelfall so bestimmt werden, dass den spezifischen Merkmalen dieses Falles, einschließlich der Sonderaspekte jedes Rechts an geistigem Eigentum und gegebenenfalls des vorsätzlichen oder nicht vorsätzlichen Charakters der Rechtsverletzung gebührend Rechnung getragen wird.

(22) Ferner sind einstweilige Maßnahmen unabdingbar, die unter Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör und der Verhältnismäßigkeit der einstweiligen Maßnahme mit Blick auf die besonderen Umstände des Einzelfalles, sowie vorbehaltlich der Sicherheiten, die erforderlich sind, um dem Antragsgegner im Falle eines ungerechtfertigten Antrags den entstandenen Schaden und etwaige Unkosten zu ersetzen, die unverzügliche Beendigung der Verletzung ermöglichen, ohne dass eine Entscheidung in der Sache abgewartet werden muss. Diese Maßnahmen sind vor allem dann gerechtfertigt, wenn jegliche Verzögerung nachweislich einen nicht wiedergutzumachenden Schaden für den Inhaber eines Rechts des geistigen Eigentums mit sich bringen würde.”

Rz. 4

Art. 2 („Anwendungsbereich”) der Richtlinie 2004/48 sieht in Abs. 1 vor:

„Unbeschadet etwaiger Instrumente in den Rechtsvorschriften der [Union] oder der Mitgliedstaaten, die für die Rechtsinhaber günstiger sind, finden die in dieser Richtlinie vorgesehenen Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe gemäß Artikel 3 auf jede Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums, die im [Unionsrecht] und/oder im innerstaatlichen Recht des betreffenden Mitgliedstaats vorgesehen sind, Anwendung.”

Rz. 5

Kapitel II („Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe”) der Richtlinie 2004/48 enthält u. a. ihren Art. 3 („Allgemeine Verpflichtung”), der lautet:

„(1) Die Mitgliedstaaten sehen die Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe vor, die zur Durchsetzung der Rechte des geis...

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