Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Eilvorabentscheidungsverfahren. Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Rahmenbeschluss 2002/584/JI Art. 26 Abs. 1. Europäischer Haftbefehl. Wirkungen der Übergabe. Anrechnung der im Vollstreckungsmitgliedstaat verbüßten Haft. Begriff ‚Haft’. Freiheitsbeschränkende Maßnahmen neben der Inhaftierung. Mittels elektronischer Fußfessel überwachter Hausarrest
Normenkette
Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 6, 49
Beteiligte
Prokuratura Rejonowa Łódź – Řródmieście |
Tenor
Art. 26 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass Maßnahmen wie ein nächtlicher Hausarrest von neun Stunden in Verbindung mit der Überwachung des Betroffenen mittels einer elektronischen Fußfessel, der Verpflichtung, sich täglich oder mehrmals pro Woche zu festgelegten Zeiten bei einer Polizeidienststelle zu melden, sowie dem Verbot, die Ausstellung von Dokumenten für Reisen ins Ausland zu beantragen, in Anbetracht der Art, der Dauer, der Wirkungen und der Durchführungsmodalitäten dieses Bündels von Maßnahmen grundsätzlich keine so starke Zwangswirkung haben, dass mit ihnen eine mit einer Inhaftierung vergleichbare freiheitsentziehende Wirkung verbunden wäre und sie daher als „Haft” im Sinne der genannten Bestimmung eingestuft werden können; dies zu prüfen ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sad Rejonowy dla Łodzi – Sródmiescia w Łodzi (Bezirksgericht Łodz – Łodz-Stadtmitte, Polen) mit Entscheidung vom 24. Mai 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 25. Mai 2016, in dem Verfahren
JZ
gegen
Prokuratura Rejonowa Łódź – Řródmieście
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz, der Richter C. Lycourgos (Berichterstatter), E. Juhász und C. Vajda sowie der Richterin K. Jürimäe,
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 4. Juli 2016,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und J. Sawicka als Bevollmächtigte,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und M. Hellmann als Bevollmächtigte,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch C. R. Brodie als Bevollmächtigte im Beistand von D. Blundell, Barrister,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Owsiany-Hornung und S. Grünheid als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 19. Juli 2016
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 26 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen JZ und der Prokuratura Rejonowa Łódźź – Řródmieście (Bezirksstaatsanwaltschaft Lodz-Stadtmitte, Polen) über den Antrag von JZ, auf die Gesamtdauer der Freiheitsstrafe, zu der er in Polen verurteilt wurde, den Zeitraum anzurechnen, in dem ihn der Mitgliedstaat der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls, das Königreich Großbritannien und Nordirland, unter elektronische Überwachung des Aufenthaltsorts in Verbindung mit einem Hausarrest gestellt hatte.
Rechtlicher Rahmen
EMRK
Rz. 3
Art. 5 „Recht auf Freiheit und Sicherheit”) der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) bestimmt in Abs. 1: „Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit.”
Charta
Rz. 4
Art. 6 „Recht auf Freiheit und Sicherheit”) der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) lautet: „Jeder Mensch hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit.”
Rz. 5
Abs. 3 von Art. 49 „Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und der Verhältnismäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen”) der Charta lautet: „Das Strafmaß darf zur Straftat nicht unverhältnismäßig sein.”
Rz. 6
Art. 52 „Tragweite und Auslegung der Rechte und Grundsätze”) der Charta bestimmt in den Abs. 3 und 7:
„(3) Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die [EMRK] garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der [EMRK] verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt.
…
(7) Die Erläuterungen, die als Anleitung für die Auslegung dieser Charta verfasst wurden, sind v...