Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen. Strenges Schutzsystem für Tierarten. Cricetus cricetus (Feldhamster). Ruhe- und Fortpflanzungsstätten. Beschädigung oder Vernichtung
Normenkette
Richtlinie 92/43/EWG Art. 12 Abs. 1; Richtlinie 92/43/EWG Anhang IV Buchst. a
Beteiligte
Tenor
1. Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen ist dahin auszulegen, dass der in dieser Bestimmung verwendete Begriff „Fortpflanzungsstätte” auch deren Umfeld umfasst, sofern sich dieses Umfeld als erforderlich erweist, um den in Anhang IV Buchst. a dieser Richtlinie genannten geschützten Tierarten, wie demCricetus cricetus(Feldhamster), eine erfolgreiche Fortpflanzung zu ermöglichen.
2. Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 92/43 ist dahin auszulegen, dass die Fortpflanzungsstätten einer geschützten Tierart so lange Schutz genießen müssen, wie dies für eine erfolgreiche Fortpflanzung dieser Tierart erforderlich ist, so dass sich dieser Schutz auch auf Fortpflanzungsstätten erstreckt, die nicht mehr genutzt werden, sofern eine hinreichend hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass diese Tierart an diese Stätten zurückkehrt.
3. Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Habitatrichtlinie ist dahin auszulegen, dass die Begriffe „Beschädigung” und „Vernichtung” im Sinne dieser Bestimmung dahin auszulegen sind, dass sie die schrittweise Verringerung der ökologischen Funktionalität einer Fortpflanzungs- oder Ruhestätte einer geschützten Tierart bzw. den vollständigen Verlust dieser Funktionalität bezeichnen, wobei es keine Rolle spielt, ob derartige Beeinträchtigungen absichtlich erfolgen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgericht Wien (Österreich) mit Entscheidung vom 10. Juli 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 31. Juli 2020, in dem Verfahren
IE
gegen
Magistrat der Stadt Wien
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Ersten Kammer A. Arabadjiev (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Zweiten Kammer, der Richterin I. Ziemele sowie der Richter T. von Danwitz, P. G. Xuereb und A. Kumin,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und L. Dvořáková als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Hermes und M. Noll-Ehlers als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (ABl. 1992, L 206, S. 7, im Folgenden: Habitatrichtlinie).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen IE, einem Dienstnehmer eines Bauträgers, und dem Magistrat der Stadt Wien (Österreich) über das Straferkenntnis des Letzteren, mit dem gegen IE eine Geldstrafe und im Nichteinbringungsfall eine Ersatzfreiheitsstrafe verhängt wurde, weil er im Rahmen eines Bauprojekts die Ruhe- bzw. Fortpflanzungsstätten der Art Cricetus cricetus (Feldhamster), die zu den in Anhang IV Buchst. a der Habitatrichtlinie aufgenommenen geschützten Tierarten zählt, beschädigt bzw. vernichtet haben soll. Dieser Rechtsstreit war bereits Gegenstand eines Vorabentscheidungsersuchens, über das der Gerichtshof mit Urteil vom 2. Juli 2020, Magistrat der Stadt Wien (Feldhamster) (C-477/19, EU:C:2020:517), entschieden hat.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 2 der Habitatrichtlinie sieht vor:
„(1) Diese Richtlinie hat zum Ziel, zur Sicherung der Artenvielfalt durch die Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten, für das der [AEU-]Vertrag Geltung hat, beizutragen.
(2) Die aufgrund dieser Richtlinie getroffenen Maßnahmen zielen darauf ab, einen günstigen Erhaltungszustand der natürlichen Lebensräume und wildlebenden Tier- und Pflanzenarten von … Interesse [für die Europäische Union] zu bewahren oder wiederherzustellen.
(3) Die aufgrund dieser Richtlinie getroffenen Maßnahmen tragen den Anforderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur sowie den regionalen und örtlichen Besonderheiten Rechnung.”
Rz. 4
Art. 12 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:
„Die Mitgliedstaaten treffen die notwendigen Maßnahmen, um ein strenges Schutzsystem für die in Anhang IV Buchstabe a) genannten Tierarten in deren natürlichen Verbreitungsgebieten einzuführen; dieses verbietet:
- alle absichtlichen Formen des Fangs oder der Tötung von aus der Natur ...