Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen. System des strengen Schutzes von Tierarten. Anhang IV. Cricetus cricetus (Feldhamster). Ruhe- und Fortpflanzungsstätten. Beschädigung oder Vernichtung. Verlassene Stätten
Normenkette
Richtlinie 92/43/EWG Art. 12 Abs. 1
Beteiligte
Tenor
Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen ist dahin auszulegen, dass unter dem Begriff „Ruhestätten” im Sinne dieser Bestimmung auch Ruhestätten zu verstehen sind, die nicht mehr von einer der in Anhang IV Buchst. a der Richtlinie genannten geschützten Tierarten, wie etwa demCricetus cricetus(Feldhamster), beansprucht werden, sofern eine hinreichend hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass diese Art an diese Ruhestätten zurückkehrt, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgericht Wien (Österreich) mit Entscheidung vom 12. Juni 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 21. Juni 2019, in dem Verfahren
IE
gegen
Magistrat der Stadt Wien
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer),
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. G. Xuereb sowie der Richter A. Arabadjiev (Berichterstatter) und A. Kumin,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von IE, der sich selbst vertritt,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und L. Dvořáková als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Hermes und M. Noll-Ehlers als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (ABl. 1992, L 206, S. 7, im Folgenden: Habitatrichtlinie).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen IE, einem Dienstnehmer eines Bauträgers, und dem Magistrat der Stadt Wien (Österreich) über das Straferkenntnis des Letzteren, mit dem gegen IE eine Geldstrafe und im Nichteinbringungsfall eine Ersatzfreiheitsstrafe verhängt wurde, weil er im Rahmen eines Bauprojekts die Ruhe- oder Fortpflanzungsstätten der Art Cricetus cricetus (Feldhamster), die zu den in Anhang IV Buchst. a dieser Richtlinie aufgenommenen geschützten Tierarten zählt, beschädigt oder vernichtet haben soll.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 2 der Habitatrichtlinie sieht vor:
„(1) Diese Richtlinie hat zum Ziel, zur Sicherung der Artenvielfalt durch die Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten, für das der Vertrag Geltung hat, beizutragen.
(2) Die aufgrund dieser Richtlinie getroffenen Maßnahmen zielen darauf ab, einen günstigen Erhaltungszustand der natürlichen Lebensräume und wildlebenden Tier- und Pflanzenarten von gemeinschaftlichem Interesse zu bewahren oder wiederherzustellen.
(3) Die aufgrund dieser Richtlinie getroffenen Maßnahmen tragen den Anforderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur sowie den regionalen und örtlichen Besonderheiten Rechnung.”
Rz. 4
Art. 12 Abs. 1 dieser Richtlinie legt fest:
„Die Mitgliedstaaten treffen die notwendigen Maßnahmen, um ein strenges Schutzsystem für die in Anhang IV Buchstabe a) genannten Tierarten in deren natürlichen Verbreitungsgebieten einzuführen; dieses verbietet:
- alle absichtlichen Formen des Fangs oder der Tötung von aus der Natur entnommenen Exemplaren dieser Arten;
- jede absichtliche Störung dieser Arten, insbesondere während der Fortpflanzungs-, Aufzucht-, Überwinterungs- und Wanderungszeiten;
- jede absichtliche Zerstörung oder Entnahme von Eiern aus der Natur;
- jede Beschädigung oder Vernichtung der Fortpflanzungs- oder Ruhestätten.”
Rz. 5
Zu den „streng zu schützenden” Tierarten „von gemeinschaftlichem Interesse”, die in Anhang IV Buchst. a dieser Richtlinie aufgelistet sind, zählt u. a. der Cricetus cricetus (Feldhamster).
ÖsterreichischesRecht
Rz. 6
Das Wiener Naturschutzgesetz vom 31. August 1998 (LGBl. für Wien, 45/1998, im Folgenden: WNSchG) setzt die Habitatrichtlinie für das Land Wien (Österreich) in nationales Recht um.
Rz. 7
§ 10 Abs. 3 Z 4 WNSchG übernimmt den Wortlaut von Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Habitatrichtlinie. Er sieht namentlich ein Verbot der Beschädigung oder Vernichtung der Fortpflanzungs- oder Ruhestätten streng geschützter Tiere vor.
Rz. 8
Die Sanktionen für Verstöße gegen § 10 Abs. 3 Z 4 sind in § 49 Abs. 1 Z 5 WNSchG festgelegt. Nach letzterer Bestimmung ist mit einer Geldstrafe bis zu 21 000 Euro, im Nicht...