Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Türkei. Beschluss Nr. 1/80. Art. 13. Stillhalteklausel. Aufenthaltsrecht der Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört. Etwaiges Vorliegen eines zwingenden Grundes des Allgemeininteresses, der neue Beschränkungen rechtfertigt. Wirksame Steuerung der Migrationsströme. Erfordernis einer Aufenthaltserlaubnis für Drittstaatsangehörige unter 16 Jahren. Verhältnismäßigkeit
Beteiligte
Tenor
Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation, der dem von der Republik Türkei einerseits sowie den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits am 12. September 1963 in Ankara unterzeichneten und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 im Namen der Gemeinschaft geschlossenen, gebilligten und bestätigten Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei beigefügt ist, ist dahin auszulegen, dass das Ziel einer wirksamen Steuerung der Migrationsströme einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen kann, der eine nationale Maßnahme rechtfertigen kann, die nach dem Inkrafttreten dieses Beschlusses in dem betreffenden Mitgliedstaat erlassen wurde und den Drittstaatsangehörigen unter 16 Jahren für die Einreise in diesen Mitgliedstaat und den Aufenthalt dort das Erfordernis einer Aufenthaltserlaubnis auferlegt.
Eine solche Maßnahme ist jedoch gemessen an dem verfolgten Ziel nicht verhältnismäßig, sofern die Modalitäten ihrer Umsetzung, soweit es sich um Kinder mit Drittstaatsangehörigkeit handelt, die in dem betreffenden Mitgliedstaat geboren wurden und von denen – wie beim Kläger des Ausgangsverfahrens – ein Elternteil ein sich rechtmäßig in diesem Mitgliedstaat aufhaltender türkischer Arbeitnehmer ist, über das hinausgehen, was für die Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgericht Darmstadt (Deutschland) mit Entscheidung vom 1. Dezember 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 7. Dezember 2015, in dem Verfahren
Furkan Tekdemir, gesetzlich vertreten durch Derya Tekdemir und Nedim Tekdemir,
gegen
Kreis Bergstraße
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter J.-C. Bonichot, A. Arabadjiev, C. G. Fernlund und S. Rodin,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. Oktober 2016,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Furkan Tekdemir, gesetzlich vertreten durch Derya Tekdemir und Nedim Tekdemir, vertreten durch Rechtsanwalt R. Gutmann,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Möller als Bevollmächtigte,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Hesse als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Martin und T. Maxian Rusche als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. Dezember 2016
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation, der dem von der Republik Türkei einerseits sowie den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits am 12. September 1963 in Ankara unterzeichneten und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 im Namen der Gemeinschaft geschlossenen, gebilligten und bestätigten Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei (ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685) (im Folgenden: Assoziierungsabkommen) beigefügt ist.
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Furkan Tekdemir (im Folgenden: Kind Tekdemir), gesetzlich vertreten durch seine Eltern, Frau Derya Tekdemir und Herrn Nedim Tekdemir, und dem Kreis Bergstraße (Deutschland) wegen Ablehnung seines Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für Deutschland.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Assoziierungsabkommen
Rz. 3
Nach Art. 2 Abs. 1 des Assoziierungsabkommens hat dieses zum Ziel, eine beständige und ausgewogene Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien unter voller Berücksichtigung der Notwendigkeit zu fördern, dass hierbei der beschleunigte Aufbau der türkischen Wirtschaft sowie die Hebung des Beschäftigungsstands und der Lebensbedingungen des türkischen Volkes gewährleistet werden.
Rz. 4
In Art. 12 des Assoziierungsabkommens heißt es, dass „[d]ie Vertragsparteien vereinbaren, sich von den Artikeln [45, 46 und 47 AEUV] leiten zu lassen, um untereinander die Freizügigkeit der Arbeit...