Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Zulässigkeit. Begriff ‚Gericht’. Rechtsstaatlichkeit. Wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz. Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit. Zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht. Gerichtliche Einrichtung, bei der ein Mitglied durch ein politisches Organ der Exekutive eines nicht demokratischen Regimes erstmals für das Amt eines Richters ernannt wurde. Arbeitsweise der Krajowa Rada Sądownictwa (Landesjustizrat, Polen). Verfassungswidrigkeit des Gesetzes, auf dessen Grundlage dieser Rat zusammengesetzt wurde. Möglichkeit, diese Einrichtung als unparteiisches und unabhängiges Gericht im Sinne des Unionsrechts einzustufen
Normenkette
AEUV Art. 267; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 47; EUV Art. 19 Abs. 1
Beteiligte
Tenor
1. Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie Art. 7 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen sind dahin auszulegen, dass der Umstand, dass sich die erstmalige Ernennung eines Richters zum Richter in einem Mitgliedstaat bzw. seine spätere Versetzung an ein Gericht höherer Instanz aus einem Beschluss ergibt, der von einer Einrichtung eines nicht demokratischen Regimes erlassen wurde, das in diesem Mitgliedstaat vor seinem Beitritt zur Union an der Macht war, als solcher nicht geeignet ist, bei den Einzelnen berechtigte und ernsthafte Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit dieses Richters zu wecken, und somit auch nicht die Eigenschaft eines Spruchkörpers, dem dieser angehört, als unabhängiges und unparteiisches, zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht in Frage stellen kann; dies gilt auch dann, wenn die Ernennungen dieses Richters bei Gerichten nach dem Ende dieses Regimes u. a. auf das Dienstalter gestützt waren, das dieser Richter in dem Zeitraum, in dem dieses Regime bestand, erworben hatte, oder wenn er den richterlichen Eid nur bei seiner erstmaligen Ernennung zum Richter durch eine Einrichtung dieses Regimes abgelegt hat.
2. Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 47 der Charta der Grundrechte sowie Art. 7 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 93/13 sind dahin auszulegen, dass es mit ihnen vereinbar ist, einen Spruchkörper eines Gerichts eines Mitgliedstaatsauch dannals unabhängiges und unparteiisches, zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht einzustufen, wenn diesem Spruchkörper ein Richter angehört, der erstmals zum Richter ernannt bzw. später an ein Gericht höherer Instanz versetzt wurde, nachdem er durch eine Einrichtung, die auf der Grundlage von später durch das Verfassungsgericht dieses Mitgliedstaats für verfassungswidrig erklärten Rechtsvorschriften zusammengesetzt war, oder durch eine Einrichtung, die ordnungsgemäß zusammengesetzt war, aber nach Abschluss eines Verfahrens, das weder transparent noch öffentlich noch gerichtlich anfechtbar war, als Bewerber für eine Richterstelle ausgewählt worden war; dies gilt allerdings nur, sofern die betreffenden Regelwidrigkeiten nicht aufgrund ihrer Art und Schwere die tatsächliche Gefahr begründen, dass andere Teile der Staatsgewalt – insbesondere die Exekutive – ein ihnen nicht zustehendes Ermessen ausüben könnten, wodurch die Integrität des Ergebnisses des Ernennungsverfahrens beeinträchtigt würde und so beim Einzelnen ernsthafte und berechtigte Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des betreffenden Richters geweckt werden könnten.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) mit Entscheidung vom 18. Dezember 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 10. März 2020, in dem Verfahren
BN,
DM,
EN
gegen
Getin Noble Bank S.A.,
Beteiligter:
Rzecznik Praw Obywatelskich,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentinnen A. Prechal und K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos und I. Jarukaitis (Berichterstatter), der Kammerpräsidentin I. Ziemele und des Kammerpräsidenten J. Passer sowie der Richter M. Ilešič, T. von Danwitz, A. Kumin und N. Wahl,
Generalanwalt: M. Bobek,
Kanzler: M. Aleksejev, Referatsleiter,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 2. März 2021,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- des Rzecznik Praw Obywatelskich, vertreten durch M. Taborowski und P. Filipek,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, A. Dalkowska und S. Żyrek als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch K. Herrmann, N. Ruiz García und P. J. O. Van Nuffel als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 8. Juli 2021
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2, Art. 4 Abs. 3, Art. 6 Abs. 1 und 3 sowie Art. 19 Abs. 1 Unterabs...