Entscheidungsstichwort (Thema)
Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Entscheidung über eine gegen die Europäische Gemeinschaft gerichtete Klage wegen außervertraglicher Haftung. Klage zur Deckung der Schulden im Sinne von Art. 530 § 1 des belgischen Gesellschaftsgesetzbuchs. Klage des Konkursverwalters einer Aktiengesellschaft gegen die Europäische Gemeinschaft. Zuständigkeit der einzelstaatlichen Gerichte für die Entscheidung über eine solche Klage
Normenkette
EG Art. 235, 288 Abs. 2
Beteiligte
Françoise-Eléonore Hanssens-Ensch in ihrer Eigenschaft als Konkursverwalterin der Agenor SA |
Tenor
Die nationalen Gerichte sind nach Art. 235 EG in Verbindung mit Art. 288 Abs. 2 EG für eine gegen die Gemeinschaft gerichtete Klage wegen außervertraglicher Haftung – auch wenn sie auf eine nationale Vorschrift gestützt wird, mit der eine rechtliche Sonderregelung geschaffen wird, die von der allgemeinen Regelung des betreffenden Mitgliedstaats im Bereich der zivilrechtlichen Haftung abweicht – nicht zuständig.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Tribunal de commerce de Bruxelles (Belgien) mit Entscheidung vom 14. September 2009, beim Gerichtshof eingegangen am 23. September 2009, in dem Verfahren
Françoise-Eléonore Hanssens-Ensch in ihrer Eigenschaft als Konkursverwalterin der Agenor SA
gegen
Europäische Gemeinschaft
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten K. Lenaerts der Richterin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter E. Juhász, T. von Danwitz (Berichterstatter) und D. Šváby,
Generalanwältin: V. Trstenjak,
Kanzler: N. Nanchev, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 20. Mai 2010,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Rechtsanwältin F.-E. Hanssens-Ensch in ihrer Eigenschaft als Konkursverwalterin der Agenor SA, vertreten durch Rechtsanwälte J. P. Renard und M. Elvinger,
- der belgischen Regierung, vertreten durch J.-C. Halleux und T. Materne als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch J.-P. Keppenne und M. Owsiany-Hornung als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 235 EG und Art. 288 Abs. 2 EG.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Rechtsanwältin Hanssens-Ensch in ihrer Eigenschaft als Konkursverwalterin der Agenor SA (im Folgenden: Agenor) und der Europäischen Gemeinschaft über eine gegen die Gemeinschaft erhobene Forderung in Höhe von 2 Millionen Euro wegen eines dieser zur Last gelegten Fehlverhaltens, das zum Konkurs von Agenor beigetragen haben soll.
Rechtlicher Rahmen
Rz. 3
In Art. 530 § 1 des belgischen Gesellschaftsgesetzbuchs heißt es:
„Bei Konkurs der Gesellschaft und mangels Masse können Verwalter oder ehemalige Verwalter und alle anderen Personen, die effektiv befugt gewesen sind, die Gesellschaft zu verwalten, für die Gesamtheit oder einen Teil der Gesellschaftsschulden in Höhe des Mangels an Masse für persönlich haftbar erklärt werden, gesamtschuldnerisch oder nicht, wenn erwiesen ist, dass ein von ihnen begangener, deutlich als schwerwiegend anzusehender Fehler zum Konkurs beigetragen hat. …”
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
Rz. 4
Gesellschaftszweck von Agenor sind Beratung, Gutachten, Studien, Weiterbildung und alle sonstigen damit zusammenhängenden geistigen Leistungen. Auf eine Ende 1994 durchgeführte Ausschreibung hin wurden Agenor die Aufgaben des Büros zur Technischen Unterstützung (im Folgenden: BTU) im Rahmen des europäischen Programms Leonardo da Vinci übertragen. Zu diesem Zweck schloss Agenor am 13. Juni 1995 mit den Europäischen Gemeinschaften einen ersten Vertrag mit einer Laufzeit von zwölf Monaten.
Rz. 5
Nach seinem Art. 3 konnte der Vertrag, sofern die Kommission der Europäischen Gemeinschaften mit den von Agenor erbrachten Dienstleistungen zufrieden war, nach Maßgabe der verfügbaren Haushaltsmittel der Gemeinschaften verlängert werden. Aufgrund dieser Bestimmung wurden für die Zeiträume vom 1. Juni 1996 bis 31. Mai 1997 und vom 1. Juni 1997 bis 31. Mai 1998 Folgeverträge unterzeichnet.
Rz. 6
Ab dem 1. Juni 1998 wurde der am 31. Mai 1998 ausgelaufene Vertrag durch eine Zusatzvereinbarung bis 30. September 1998 verlängert. Anschließend wurde ein weiterer Vertrag für einen neuen Zeitraum geschlossen, der mit dem 31. Januar 1999 endete.
Rz. 7
Am 6. Januar 1999 übermittelte die Kommission Agenor den Bericht über eine Rechnungsprüfung, die ab März 1998 durchgeführt worden war. Laut diesem Bericht wies das Management des BTU eine Reihe von Schwächen und Mängeln auf. Ferner wurde darauf hingewiesen, dass bei einer Fortsetzung der Vertragsbeziehung ganz erhebliche Verbesserungen in der Funktionsweise des BTU erforderlich seien und dass im Fall einer Verlängerung des Vertrags üb...