Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Urheberrecht und verwandte Schutzrechte. Informationsgesellschaft. Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte. Vervielfältigungsrecht. Öffentliche Wiedergabe. Ausnahmen und Beschränkungen. Reichweite
Normenkette
Richtlinie 2001/29/EG, Art. 2 Buchst. a, Art. 3 Abs. 1, Art. 5 Abs. 2-3; Charta der Grundrechte der Europäischen Union
Beteiligte
Bundesrepublik Deutschland |
Tenor
1. Art. 2 Buchst. a und Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft sind dahin auszulegen, dass sie Maßnahmen zur vollständigen Harmonisierung des materiellen Gehalts der in ihnen enthaltenen Rechte darstellen. Art. 5 Abs. 3 Buchst. c Fall 2 und Buchst. d dieser Richtlinie ist dahin auszulegen, dass er keine Maßnahme zur vollständigen Harmonisierung der Reichweite der in ihm aufgeführten Ausnahmen oder Beschränkungen darstellt.
2. Die Informationsfreiheit und die Pressefreiheit, die in Art. 11 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert sind, können außerhalb der in Art. 5 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2001/29 vorgesehenen Ausnahmen und Beschränkungen keine Abweichung von den ausschließlichen Rechten des Urhebers zur Vervielfältigung und zur öffentlichen Wiedergabe aus Art. 2 Buchst. a bzw. Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie rechtfertigen.
3. Das nationale Gericht muss sich im Rahmen der Abwägung, die es zwischen den ausschließlichen Rechten des Urhebers aus Art. 2 Buchst. a und Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 auf der einen Seite und den Rechten der Nutzer von Schutzgegenständen aus den Ausnahmebestimmungen in Art. 5 Abs. 3 Buchst. c Fall 2 und Buchst. d dieser Richtlinie auf der anderen Seite anhand sämtlicher Umstände des Einzelfalls vorzunehmen hat, auf eine Auslegung dieser Bestimmungen stützen, die unter Achtung ihres Wortlauts und unter Wahrung ihrer praktischen Wirksamkeit mit den durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union gewährleisteten Grundrechten voll und ganz im Einklang steht.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 1. Juni 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 4. August 2017, in dem Verfahren
Funke Medien NRW GmbH
gegen
Bundesrepublik Deutschland
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, M. Vilaras und T. von Danwitz, der Kammerpräsidentin C. Toader, der Kammerpräsidenten F. Biltgen und C. Lycourgos sowie der Richter E. Juhász, M. Ilešič (Berichterstatter), L. Bay Larsen und S. Rodin,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: M. Aleksejev, Referatsleiter,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 3. Juli 2018,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Funke Medien NRW GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt T. von Plehwe,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze, M. Hellmann, E. Lankenau und J. Techert als Bevollmächtigte,
- der französischen Regierung, vertreten durch E. Armoët, D. Colas und D. Segoin als Bevollmächtigte,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch Z. Lavery und D. Robertson als Bevollmächtigte im Beistand von N. Saunders, Barrister,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch H. Krämer, T. Scharf und J. Samnadda als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25. Oktober 2018
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsverfahren betrifft die Auslegung von Art. 2 Buchst. a, Art. 3 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft (ABl. 2001, L 167, S. 10).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Funke Medien NRW GmbH (im Folgenden: Funke Medien), die das Internetportal der deutschen Tageszeitung Westdeutsche Allgemeine Zeitung betreibt, und der Bundesrepublik Deutschland wegen der Veröffentlichung einiger als „Verschlusssache” eingestufter Dokumente der deutschen Regierung durch Funke Medien.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 1, 3, 6, 7, 9, 31 und 32 der Richtlinie 2001/29 heißt es:
„(1) Der [EG-]Vertrag sieht die Schaffung eines Binnenmarkts und die Einführung einer Regelung vor, die den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarkts vor Verzerrungen schützt. Die Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über das Urheberrecht und die verwandten Schutzrechte trägt zur Erreichung dieser Ziele bei.
…
(3) Die vorgeschlagene Harmonisierung trägt zur Verwirklichung der vier Freiheiten des Binnenmarkts bei und steht im Zusammenhang mit der Beachtung der tragen...