Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Vergabe öffentlicher Liefer-, Bau- oder Dienstleistungsaufträge. Fakultative Ausschlussgründe. Ausschlussgrund, der einen im Angebot des Wirtschaftsteilnehmers genannten Unterauftragnehmer trifft. Verstoß des Unterauftragnehmers gegen die umwelt-, sozial- und arbeitsrechtlichen Verpflichtungen. Nationale Regelung, die für einen solchen Verstoß den automatischen Ausschluss des Wirtschaftsteilnehmers vorsieht

 

Normenkette

Richtlinie 2014/24/EU Art. 18 Abs. 2, Art. 57 Abs. 4

 

Beteiligte

Tim

Tim SpA – Direzione e coordinamento Vivendi SA

Consip SpA

Ministero dell'Economia e delle Finanze

 

Tenor

Art. 57 Abs. 4 Buchst. a der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG steht einer nationalen Regelung nicht entgegen, wonach der öffentliche Auftraggeber befugt oder sogar verpflichtet ist, den Wirtschaftsteilnehmer, der das Angebot abgegeben hat, von der Teilnahme am Vergabeverfahren auszuschließen, wenn der in dieser Bestimmung vorgesehene Ausschlussgrund in Bezug auf einen der im Angebot dieses Wirtschaftsteilnehmers genannten Unterauftragnehmer festgestellt wird. Hingegen stehen diese Bestimmung in Verbindung mit Art. 57 Abs. 6 dieser Richtlinie sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einer nationalen Regelung entgegen, nach der ein solcher Ausschluss automatisch erfolgen muss.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale amministrativo regionale per il Lazio (Verwaltungsgericht der Region Latium, Italien) mit Entscheidung vom 21. Februar 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 14. Juni 2018, in dem Verfahren

Tim SpA – Direzione e coordinamento Vivendi SA

gegen

Consip SpA,

Ministero dell'Economia e delle Finanze,

Beteiligte:

E-VIA SpA,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev sowie der Richter P. G. Xuereb, T. von Danwitz, C. Vajda (Berichterstatter) und A. Kumin,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: R. Schiano, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 2. Mai 2019,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • der Tim SpA – Direzione e coordinamento Vivendi SA, vertreten durch F. Cardarelli, F. Lattanzi und F. S. Cantella, avvocati,
  • der Consip SpA, vertreten durch F. Sciaudone und F. Iacovone, avvocati,
  • der österreichischen Regierung, vertreten durch J. Schmoll, M. Fruhmann und G. Hesse als Bevollmächtigte,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Gattinara, P. Ondrušek und L. Haasbeek als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 11. Juli 2019

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 57 Abs. 4 und Art. 71 Abs. 6 der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG (ABl. 2014, L 94, S. 65).

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Tim SpA – Direzione e coordinamento Vivendi SA (im Folgenden: Tim) auf der einen Seite und der Consip SpA sowie dem Ministero dell'Economia e delle Finanze (Ministerium für Wirtschaft und Finanzen, Italien) auf der anderen Seite über den Ausschluss von Tim von einem von Consip eröffneten Ausschreibungsverfahren.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rz. 3

In den Erwägungsgründen 40, 101 und 102 der Richtlinie 2014/24 heißt es:

„(40) Die Überprüfung der Einhaltung [der] umwelt-, sozial- und arbeitsrechtlichen Bestimmungen sollte in den relevanten Phasen des Vergabeverfahrens erfolgen, also bei Anwendung der allgemeinen Grundsätze für die Auswahl der Teilnehmer und die Auftragsvergabe, bei der Anwendung der Ausschlusskriterien und bei der Anwendung der Bestimmungen bezüglich ungewöhnlich niedriger Angebote. …

(101) Öffentliche Auftraggeber sollten ferner die Möglichkeit erhalten, Wirtschaftsteilnehmer auszuschließen, die sich als unzuverlässig erwiesen haben, beispielsweise wegen Verstoßes gegen umwelt- oder sozialrechtliche Verpflichtungen, einschließlich Vorschriften zur Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen, oder wegen anderer Formen schwerwiegenden beruflichen Fehlverhaltens wie der Verletzung von Wettbewerbsregeln oder Rechten des geistigen Eigentums. …

Bei der Anwendung fakultativer Ausschlussgründe sollten die öffentlichen Auftraggeber insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung tragen. Kleinere Unregelmäßigkeiten sollten nur in Ausnahmefällen zum Ausschluss eines Wirtschaftsteilnehmers führen. Wiederholte Fälle kleinerer Unregelmäßigkeiten können allerdings Zweifel an der Zuverlässigkeit eines Wirtschaftsteilnehmers wecken, die seinen Ausschluss rechtfertigen könnten.

(102) Es sollte jedoch berücksichtigt werden, dass Wirtschaftsteilnehmer Compliance-Maßnahmen treffen können, um die ...

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