Entscheidungsstichwort (Thema)
Asylpolitik. Vorlage zur Vorabentscheidung. Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist. Rechtsbehelf gegen eine gegenüber einem Asylbewerber ergangene Überstellungsentscheidung. Überstellungsfrist. Aussetzung dieser Frist im Berufungsverfahren. Von der Verwaltung beantragte einstweilige Anordnung
Normenkette
Verordnung (EU) Nr. 604/2013 Art. 27, 29
Beteiligte
Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Suspension du délai de transfert en appel) |
Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid |
Tenor
Art. 29 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, in Verbindung mit Art. 27 Abs. 3 dieser Verordnung
ist dahin auszulegen, dass
er einer nationalen Regelung, wonach ein nationales Gericht, das mit einem zweitinstanzlichen Rechtsbehelf gegen ein Urteil befasst ist, mit dem eine Überstellungsentscheidung für nichtig erklärt wurde, auf Antrag der zuständigen Behörden eine einstweilige Anordnung erlassen kann, die ihnen erlaubt, bis zum Abschluss dieses Rechtsbehelfs keine neue Entscheidung zu treffen, und zum Gegenstand oder zur Folge hat, dass die Überstellungsfrist bis zu diesem Abschluss ausgesetzt wird, nicht entgegensteht, sofern eine solche Anordnung nur erlassen werden kann, wenn die Durchführung der Überstellungsentscheidung während der Prüfung des erstinstanzlichen Rechtsbehelfs nach Art. 27 Abs. 3 und 4 der Verordnung ausgesetzt war.
Tatbestand
In der Rechtssache C-556/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad van State (Staatsrat, Niederlande) mit Entscheidung vom 1. September 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 10. September 2021, in dem Verfahren
Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid
gegen
E. N.,
S. S.,
J. Y.
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Ersten Kammer, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen (Berichterstatter), des Richters A. Kumin und der Richterin I. Ziemele,
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: R. Stefanova-Kamisheva, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. Juli 2022,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von E. N., vertreten durch M. J. A. Rinkes, Advocaat,
- – von S. S., vertreten durch M. H. R. de Boer, Advocaat,
- – von J. Y., vertreten durch D. P. J. Cain, Advocaat,
- – der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, M. H. S. Gijzen und P. Huurnink als Bevollmächtigte,
- – der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga und F. Wilman als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 17. November 2022
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 27 Abs. 3 und Art. 29 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31, im Folgenden: Dublin-III-Verordnung).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Staatssekretär für Justiz und Sicherheit, Niederlande) (im Folgenden: Staatssecretaris) und den Drittstaatsangehörigen E. N., S. S. und J. Y. wegen der Entscheidungen des Staatssecretaris, ihre Anträge auf internationalen Schutz ohne Prüfung abzulehnen und ihre Überstellung in andere Mitgliedstaaten anzuordnen.
Rechtlicher Rahmen
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 4 und 5 der Dublin-III-Verordnung heißt es:
„(4) Entsprechend den Schlussfolgerungen [des Europäischen Rates auf seiner Sondertagung vom 15. und 16. Oktober 1999 in] Tampere sollte das [Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS)] auf kurze Sicht eine klare und praktikable Formel für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats umfassen.
(5) Eine solche Formel sollte auf objektiven und für die Mitgliedstaaten und die Betroffenen gerechten Kriterien basieren. Sie sollte insbesondere eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ermöglichen, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährung des internationalen Schutzes zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz...