Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist. Rechtsbehelf gegen eine gegenüber einem Asylbewerber ergangene Überstellungsentscheidung. Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung. Überstellungsfrist. Unterbrechung der Frist für die Durchführung der Überstellung. Erteilung von Aufenthaltstiteln für Drittstaatsangehörige, die Opfer des Menschenhandels sind oder denen Beihilfe zur illegalen Einwanderung geleistet wurde und die mit den zuständigen Behörden kooperieren. Bedenkzeit. Verbot, eine Rückführungsentscheidung zu vollstrecken. Rechtsbehelfe
Normenkette
Verordnung (EU) Nr. 604/2013 Art. 27, 29; Richtlinie 2004/81/EG Art. 6
Beteiligte
Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Délai de transfert – Traite des êtres humains) |
Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid |
Tenor
Art. 29 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, in Verbindung mit Art. 27 Abs. 3 dieser Verordnung
ist dahin auszulegen, dass
- –
- er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, wonach die Stellung eines Antrags auf Überprüfung einer Entscheidung, mit der einem Drittstaatsangehörigen die Erteilung eines Aufenthaltstitels wegen der Eigenschaft als Opfer des Menschenhandels versagt wird, zur Aussetzung der Durchführung einer zuvor gegen diesen Drittstaatsangehörigen ergangenen Überstellungsentscheidung führt, aber dass
- –
- er einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach eine solche Aussetzung die Aussetzung oder Unterbrechung der Frist für die Überstellung dieses Drittstaatsangehörigen zur Folge hat.
Tatbestand
In der Rechtssache C-338/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad van State (Staatsrat, Niederlande) mit Entscheidung vom 26. Mai 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 31. Mai 2021, in dem Verfahren
Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid
gegen
S. S.,
N. Z.,
S. S.
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Ersten Kammer, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen (Berichterstatter), des Richters A. Kumin und der Richterin I. Ziemele,
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: R. Stefanova-Kamisheva, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. Juli 2022,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von S. S., vertreten durch A. Khalaf und P. A. J. Mulders, Advocaten,
- – von N. Z., vertreten durch F. M. Holwerda, Advocaat,
- – von S. S., vertreten durch M. H. R. de Boer, Advocaat,
- – der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, M. H. S. Gijzen und P. Huurnink als Bevollmächtigte,
- – der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und A. Hoesch als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga und F. Wilman als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 17. November 2022,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 27 Abs. 3 und Art. 29 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31, im Folgenden: Dublin-III-Verordnung).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Staatssekretär für Justiz und Sicherheit, Niederlande) (im Folgenden: Staatssecretaris) und den Drittstaatsangehörigen S. S., N. Z. und S. S. wegen der Entscheidungen des Staatssecretaris, ihre Anträge auf internationalen Schutz ohne Prüfung abzulehnen und ihre Überstellung nach Italien anzuordnen.
Rechtlicher Rahmen
Richtlinie 2004/81/EG
Rz. 3
Art. 1 der Richtlinie 2004/81/EG des Rates vom 29. April 2004 über die Erteilung von Aufenthaltstiteln für Drittstaatsangehörige, die Opfer des Menschenhandels sind oder denen Beihilfe zur illegalen Einwanderung geleistet wurde und die mit den zuständigen Behörden kooperieren (ABl. 2004, L 261, S. 19) bestimmt:
„Mit dieser Richtlinie sollen die Voraussetzungen für die Erteilung eines befristeten Aufenthaltstitels, der an die Dauer der maßgeblichen innerstaatlichen Verfahren gekoppelt ist, an Drittstaatsangehörige festgelegt werden, die bei der Bekämpfung des Menschenhandels und der Beihilfe zur ...