Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen. Erlangung von Beweismitteln, die sich bereits im Besitz der zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats befinden. Voraussetzungen für den Erlass. Dienst zur Verschlüsselung von Telekommunikation. EncroChat. Erforderlichkeit einer gerichtlichen Entscheidung. Verwertung von unter Verstoß gegen das Unionsrecht erlangten Beweismitteln
Normenkette
RL 2014/41/EU
Beteiligte
Tenor
1.Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen
sind dahin auszulegen, dass
eine Europäische Ermittlungsanordnung, die auf die Übermittlung von Beweismitteln gerichtet ist, die sich bereits im Besitz der zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats befinden, nicht notwendigerweise von einem Richter erlassen werden muss, wenn nach dem Recht des Anordnungsstaats in einem rein innerstaatlichen Verfahren dieses Staates die originäre Erhebung dieser Beweismittel von einem Richter hätte angeordnet werden müssen, ein Staatsanwalt aber dafür zuständig ist, die Übermittlung dieser Beweise anzuordnen.
2.Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41
ist dahin auszulegen, dass
er es nicht verbietet, dass eine Europäische Ermittlungsanordnung, die auf die Übermittlung von Beweismitteln gerichtet ist, die sich bereits im Besitz der zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats befinden, von einem Staatsanwalt erlassen wird, wenn diese Beweismittel aufgrund der durch diese Behörden im Hoheitsgebiet des Anordnungsstaats durchgeführte Überwachung des Telekommunikationsverkehrs sämtlicher Nutzer von Mobiltelefonen, die mittels spezieller Software und modifizierter Geräte eine Ende zu Ende verschlüsselte Kommunikation ermöglichen, erlangt wurden, sofern eine solche Anordnung alle Voraussetzungen erfüllt, die gegebenenfalls nach dem Recht des Anordnungsstaats für die Übermittlung solcher Beweismittel bei einem rein innerstaatlichen Sachverhalt vorgesehen sind.
3.Art. 31 der Richtlinie 2014/41
ist dahin auszulegen, dass
eine mit der Infiltration von Endgeräten verbundene Maßnahme zur Abschöpfung von Verkehrs-, Standort- und Kommunikationsdaten eines internetbasierten Kommunikationsdiensts eine „Überwachung des Telekommunikationsverkehrs“ im Sinne dieses Artikels darstellt, von der die Behörde zu unterrichten ist, die von dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich die Zielperson der Überwachung befindet, zu diesem Zweck bestimmt wurde. Sollte der überwachende Mitgliedstaat nicht in der Lage sein, die zuständige Behörde des unterrichteten Mitgliedstaats zu ermitteln, so kann diese Unterrichtung an jede Behörde des unterrichteten Mitgliedstaats gerichtet werden, die der überwachende Mitgliedstaat für geeignet hält.
4.Art. 31 der Richtlinie 2014/41
ist dahin auszulegen, dass
er auch bezweckt, die Rechte der von einer Maßnahme der „Überwachung des Telekommunikationsverkehrs“ im Sinne dieses Artikels betroffenen Nutzer zu schützen.
5.Art. 14 Abs. 7 der Richtlinie 2014/41
ist dahin auszulegen, dass
er dem nationalen Strafgericht gebietet, im Rahmen eines Strafverfahrens gegen eine Person, die im Verdacht steht, Straftaten begangen zu haben, Informationen und Beweismittel unberücksichtigt zu lassen, wenn diese Person nicht in der Lage ist, sachgerecht zu diesen Informationen und Beweismitteln Stellung zu nehmen, und diese geeignet sind, die Würdigung der Tatsachen maßgeblich zu beeinflussen.
Tatbestand
In der Rechtssache C-670/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landgericht Berlin (Deutschland) mit Beschluss vom 19. Oktober 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Oktober 2022, in der Strafsache gegen
M. N.
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, der Kammerpräsidentinnen A. Prechal und K. Jürimäe (Berichterstatterin), der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, T. von Danwitz und Z. Csehi, der Kammerpräsidentin O. Spineanu-Matei sowie der Richter M. Ilešič, J.-C. Bonichot, I. Jarukaitis, A. Kumin und D. Gratsias, der Richterin M. L. Arastey Sahún und des Richters M. Gavalec,
Generalanwältin: T. Ćapeta,
Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter, und K. Hötzel, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 4. Juli 2023,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – der Staatsanwaltschaft Berlin, vertreten durch R. Pützhoven und J. Raupach als Bevollmächtigte,
- – von M. N., vertreten durch Rechtsanwalt S. Conen,
- – der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, P. Busche und M. Hellmann als Bevollmächtigte,
- – der tschechischen Regierung, vertreten durch L. Halajová, M. Smolek und T. Suchá als Bevollmächtigte,
- – der estnischen Regierung, vertreten durch M. Kriisa als Bevollmächtigte,