Rz. 52
Zwischenzeitlich ist geklärt, dass die bisherige Rechtsprechung zum AEntG auf die Frage der Anrechnungsmöglichkeit von Zulagen übertragen werden kann. Die Bundesregierung ging in einer Stellungnahme zu der (berechtigten) Kritik des Bundesrates, das MiLoG regele nicht klar, welche Zulagen angerechnet werden könnten, von Folgendem aus: "[Die] zur Entsende-Richtlinie aufgestellten Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs sind auf den allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn zu übertragen und müssen aufgrund der gebotenen einheitlichen Auslegung für Sachverhalte mit unionsrechtlichem Bezug einerseits und reinen Inlandssachverhalten andererseits auch für Arbeitsverhältnisse von im Inland beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit einem in Deutschland ansässigen Arbeitgeber gelten."
Rz. 53
Damit ist davon auszugehen, dass die Rechtsprechung des EuGH und des BAG zur Bestimmung des Mindestlohns und der Anrechenbarkeit von Zulagen nach dem AEntG auch im Zusammenhang des Mindestlohns zu berücksichtigen ist. Bei dem Mindestlohn handelt es sich um einen Mindestentgeltsatz i. S. v. § 2 Nr. 1 AEntG, der sowohl für rein nationale aber auch für grenzüberschreitende Sachverhalte einheitlich im AEntG geregelt ist. Damit hat der Gesetzgeber die Regelung auf ein europäisches Niveau gehoben, nämlich das der Entsenderichtlinie, die durch das AEntG umgesetzt wird. Nach Auffassung des EuGH und des BAG bindet die Auslegung des EuGH zur Entsenderichtlinie nicht nur bei grenzüberschreitenden Sachverhalten, sondern auch, wenn der Gesetzgeber nationale und grenzüberschreitende Sachverhalte im Anwendungsbereich einer Richtlinie gleich behandelt. Das bedeutet, dass der Mindestlohn neben den nationalen Anwendungsfällen auch an grenzüberschreitend in Deutschland tätige Arbeitnehmer zu zahlen ist. Ferner bedeutet es, dass sich die Anrechenbarkeit von Zahlungen nach der Auslegung des EuGH zum Mindestentgelt richtet.
In seiner Rechtsprechung geht der EuGH davon aus, dass gezahlte Zulagen dann für die Erfüllung des Mindestlohnanspruchs berücksichtigt werden können, wenn sie das Verhältnis zwischen der Leistung des Arbeitnehmers auf der einen und der ihm hierfür erbrachten Gegenleistung auf der anderen Seite nicht verändern. Dieser Rechtsprechung folgt auch das BAG.
Umgekehrt formuliert können solche Zulagen nicht auf die Erfüllung des Mindestlohnanspruchs angerechnet werden, die der Arbeitgeber nicht für die allgemeine Erbringung der Arbeitsleistung, sondern für besondere Leistungen des Arbeitnehmers, die nicht mit dem Mindestlohn abgegolten sind, gewährt.
Das BAG geht zu der Frage, ob der Mindestlohn eines Tarifvertrags, der nach dem AEntG erstreckt worden ist, erfüllt wurde, weiterhin von diesen Grundsätzen aus. Dabei fragt es jeweils, ob die vom Arbeitgeber erbrachte Leistung ihrem Zweck nach diejenige Arbeitsleistung des Arbeitnehmers entgelten soll, die mit der tariflich begründeten Zahlung zu vergüten ist. Daher ist dem erkennbaren Zweck des tariflichen Mindestlohns, den der Arbeitnehmer als unmittelbare Leistung für die verrichtete Tätigkeit begehrt, der zu ermittelnde Zweck der jeweiligen Leistung des Arbeitgebers, die dieser aufgrund anderer (individual- oder kollektivrechtlicher) Regelungen erbracht hat, gegenüberzustellen. Besteht eine "funktionale Gleichwertigkeit" der zu vergleichenden Leistungen, ist die erbrachte Leistung auf den zu erfüllenden Anspruch anzurechnen.
Gedankliche Prüfschritte für die Frage der Anrechenbarkeit einer Zulage
Ist der Zweck, für den der Arbeitgeber die Zulage gewährt, identisch mit dem Zweck, für den der Mindestlohn gewährt wird?
Damit ist in einem 1. Schritt zunächst zu bestimmen, welche Leistungen des Arbeitnehmers der zu zahlende Mindestlohn alles abgelten soll.
In einem 2. Schritt ist zu fragen, welche Leistungen des Arbeitnehmers die gewährte Zulage, die angerechnet werden soll, abgelten soll.
Das ist für die Frage, ob Leistungen des Arbeitgebers für den Mindestlohn nach einem erstreckten Tarifvertrag nach dem AEntG heranzuziehen sind, auf der Grundlage des jeweiligen Mindestlohntarifvertrags zu beurteilen. Es ist der Tarifvertrag auszulegen, auf den der Arbeitnehmer seinen Mindestlohnanspruch stützt.
In einer Entscheidung zur Abfallwirtschaft kam das BAG aufgrund der Auslegung des Mindestlohntarifvertrags zu dem Ergebnis, dass jede Tätigkeit in der Abfallwirtschaft und zwar unabhängig davon, ob die Arbeitsleistung unter erschwerten Bedingungen einer Spätschicht erbracht wird oder nicht, durch die Vergütung des Mindestlohns abgegolten wird. Der in diesem Fall der Arbeitnehmerin gezahlte Spätschichtzuschlag vergütete daher neben dem vertraglichen Stundenlohn zusätzlich die Arbeitsbedingungen der Klägerin, die nach dem Tarifvertrag Mindestlohn allein einen Anspruch von 8,02 EUR brutto für die dort geregelte "Normaltätigkeit" begründen würden, und konnte daher zur Erfüllung des Mindestlohnanspruchs nach diesem Tarifvertrag herangezogen werden. In diesem Tarifvert...