Die Schwelle für Eingriffe in das Elternrecht ist in Deutschland doppelt zukunftsgerichtet. Einerseits ist eine Kindeswohlgefährdung gefordert, also eine "eine gegenwärtige, in einem solchen Maße vorhandene Gefahr, dass sich bei der weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt."[40] Andererseits ist einzuschätzen, inwieweit die Eltern gewillt oder in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden, ggf. unter Inanspruchnahme öffentlicher Hilfen (§ 1666 Abs. 1, § 1666a Abs. 1 BGB). Bei diesem von Prognoseunsicherheiten geprägten Konzept werden anspruchsvolle Fragen der Vorhersage-Wahrscheinlichkeit aufgeworfen.[41] Solche haben in der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 6.2.2019 zu "experimentellen" Konstruktionen geführt[42] und berechtigte Kritik erfahren.[43]

Nicht alle Länder verfolgen ein solches zweigleisiges Konzept. Einige orientieren sich beim elterlichen Verhalten rein rückwärtsgewandt an vergangenem Handeln.[44] Sechs EU-Länder fokussieren allein auf die Bedürfnisse des Kindes, was allerdings die Eltern wiederum – dann aber rein mittelbar – ins Spiel bringt.[45] Slowenien nimmt nur das elterliche Verhalten in der Vergangenheit in den Blick, was den Schutz von Kindern und Jugendlichen in die Nähe strafrechtlicher Ermittlungen führt.[46] Solche Ansätze dürften im Lichte des Kindeswohlprinzips (§ 1697a BGB, Art. 3 UN-Kinderrechtskonvention) und der Bedeutung der in Rede stehenden Rechtsgüter wenig erstrebenswert sein. An einer fortwährenden Qualifizierung des Verfahrens und der Entscheidungsfindung führt daher kein Weg vorbei.

[41] Zur Prognose der Erziehungsfähigkeit in familiengerichtlichen Kindesschutzverfahren nach einer Inobhutnahme Neugeborener Krutzinna/Skivenes, The British Journal of Social Work, 2020, im Erscheinen.
[42] BGH FamRZ 1956, 350.
[43] Reinken, FF 2019, 207; Heilmann, NJW 2019, 1417; Hammer, FamRZ 2019, 604; Kepert, JAmt 2019, 378; Salgo, ZKJ 2019, 217.
[44] Meysen/Hagemann-White, S. 182.
[45] Belgien, Finnland, Polen, Slowakei und Tschechien; European Commission, Feasibility Study (Fn 16), 2010, S. 39.
[46] Meysen/Kelly, CFSW 2018, 222 ff.

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