GG Art. 2 Abs. 1 Art. 3 Abs. 2 S. 2 Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 Art. 7 Abs. 1
Leitsatz
1. Aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 GG folgt ein Recht der Kinder und Jugendlichen gegenüber dem Staat, ihre Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit auch in der Gemeinschaft durch schulische Bildung zu unterstützen und zu fördern (Recht auf schulische Bildung). (Rn 47)
2. Das Recht auf schulische Bildung umfasst verschiedene Gewährleistungsdimensionen: (Rn 51)
a) Es vermittelt den Kindern und Jugendlichen einen Anspruch auf Einhaltung eines für ihre chancengleiche Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten unverzichtbaren Mindeststandards von Bildungsangeboten, enthält jedoch keinen originären Leistungsanspruch auf eine bestimmte Gestaltung staatlicher Schulen. (Rn 52) (Rn 57)
b) Aus dem Recht auf schulische Bildung folgt zudem ein Recht auf gleichen Zugang zu staatlichen Bildungsangeboten im Rahmen des vorhandenen Schulsystems. (Rn 59)
c) Das Recht auf schulische Bildung umfasst auch ein Abwehrrecht gegen Maßnahmen, welche das aktuell eröffnete und auch wahrgenommene Bildungsangebot einer Schule einschränken, ohne das in Ausgestaltung des Art. 7 Abs. 1 GG geschaffene Schulsystem als solches zu verändern. (Rn 61)
3. Entfällt der schulische Präsenzunterricht aus überwiegenden Gründen der Infektionsbekämpfung für einen längeren Zeitraum, sind die Länder nach Art. 7 Abs. 1 GG verpflichtet, den für die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und Jugendlichen unverzichtbaren Mindeststandard schulischer Bildung so weit wie möglich zu wahren. Sie haben dafür zu sorgen, dass bei einem Verbot von Präsenzunterricht nach Möglichkeit Distanzunterricht stattfindet. (Rn 169) (Rn 170)
4. Bei einer lange andauernden Gefahrenlage wie der Corona-Pandemie muss der Gesetzgeber seinen Entscheidungen umso fundiertere Einschätzungen zugrunde legen, je länger die zur Bekämpfung der Gefahr ergriffenen belastenden Maßnahmen anhalten. Allerdings dürfte der Staat große Gefahren für Leib und Leben am Ende nicht deshalb in Kauf nehmen, weil er nicht genug dazu beigetragen hat, dass freiheitsschonendere Alternativen zur Abwehr dieser Gefahren erforscht wurden. (Rn 177) (Rn 178)
5. Eine die Zustimmungsbedürftigkeit des Bundesrates gemäß Art. 104a Abs. 4 GG auslösende bundesgesetzliche Verpflichtung der Länder zur Erbringung von Geldleistungen, geldwerten Sachleistungen oder vergleichbaren Dienstleistungen gegenüber Dritten liegt nur dann vor, wenn das Gesetz nach seinem objektiven Regelungsgehalt bezweckt, Dritten individuelle Vorteile durch staatliche Leistungen zu verschaffen. (Rn 99)
BVerfG, Beschl. v. 19.11.2021 – 1 BvR 971/21, 1 BvR 1069/21
FF 1/2022, S. 29