Prof. Dr. Philipp Reuß
Schnitzler/FF: Das Abstammungsrecht ist seit langem in der Diskussion. Die Bundesregierung will im Familienrecht wichtige Änderungen umsetzen und dies nicht nur im Unterhaltsrecht, sondern auch im Abstammungsrecht. Es wurden bereits viele Vorarbeiten zu dem neuen Abstammungsrecht geleistet, u.a. 2017/2018 durch eine Kommission. Ein Eckpunktpapier des BMJ liegt bisher jedoch noch nicht vor.
Wie erklären Sie sich, dass diese komplizierte Materie so lange nicht neu geregelt worden ist?
Reuß:
In der abstammungsrechtlichen Literatur ist es letztlich allgemein Konsens, dass das geltende Recht einer Reform bedarf. Seit langem wird an Reformvorschlägen gearbeitet. Im Jahre 2017 hat der von Ihnen angesprochene Arbeitskreis Abstammungsrecht seinen Abschlussbericht mit umfangreichen Reformvorschlägen an das Bundesjustizministerium (damaliges BMJV) übermittelt, im Jahre 2019 ist noch unter der großen Koalition ein Diskussionsteilentwurf veröffentlicht worden, der die Vorschläge des Arbeitskreis Abstammungsrecht teils aufgegriffen hat. Ein weiterer Reformentwurf hat die finale Ressortabstimmung im Kanzleramt letztlich nicht mehr verlassen. Es gibt zahlreiche Dissertationen und Habilitationen, die sich mit der Thematik befassen und die Reformkonzepte erarbeitet haben. Die Ampel-Koalition hat sich in ihrem Koalitionsvertrag ebenfalls einer grundlegenden Reform des Abstammungsrechts verschrieben. Aus den anfangs großen Plänen und vollmundigen Ankündigungen, z.B. ein erster Reformvorschlag würde bereits vor der Sommerpause 2022 vorliegen, sind allerdings eher kleinere bzw. kaum zu vernehmende Pläne geworden. Es ist ein wenig als warte man auf Godot!
Sie haben es zutreffend beschrieben, wir warten nach all der Zeit immer noch auf bloße Eckpunkte (!). Immerhin ist die im Koalitionsvertag avisierte Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin, die sich mit der Zulässigkeit von Eizellenspende und altruistischer Leihmutterschaft befassen soll, bereits eingesetzt worden.
Warum dauert das alles so lange? Die zu regelnden Fragen weisen zwar eine gewisse Komplexität auf, stimmige Lösungskonzepte lassen sich allerdings finden. Meines Erachtens liegt der reformatorische Stillstand eher an dem fehlenden Mut der politischen Entscheidungsträger, sich für eine konkrete, u.U. Kontroversen verursachende Regelung zu entscheiden. Die Politik (das schließt neben der Ampel-Koalition auch die vergangene GroKo mit ein) muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass sie die gestaltende Kraft im Familienrecht derzeit nicht wahrnimmt.
Schnitzler/FF:
Die Abstammung ist nach dem Gesetz Grundlage für alle an diese Verwandtschaft geknüpften familienrechtlichen Rechtsfolgen, wie z.B. der Unterhalt des Kindes und der Mutter, das Sorgerecht, aber auch das Erbrecht, die Staatsangehörigkeit und viele andere wichtige Rechtsfolgen im Zivil- und öffentlichen Recht.
Warum ist die Änderung des Abstammungsrechts überfällig?
Reuß:
Das geltende Abstammungsrecht wird in seiner jetzigen Gestalt den gesellschaftlichen Anforderungen nicht gerecht. Das gilt vor allen Dingen aufgrund seiner Ausrichtung am Primat der genetischen Abstammung, d.h. dem Idealtypus des Gleichlaufs genetischer und rechtlicher Abstammung. Mit dieser Ausrichtung erfasst das geltende Recht eine Vielzahl von tatsächlich gelebten Eltern-Kind-Verhältnissen nicht und bietet in diesen Fällen keine angemessene rechtliche Regelung.
Dass sich in Deutschland seit vielen Jahren ein Wandel der gelebten Familienformen vollzieht, ist bekannt. Die gelebten Familienverhältnisse werden vielfältiger. Neben den "Normalitätsentwurf" der Kernfamilie verheirateter Eltern mit den von ihnen genetisch abstammenden Kindern sind viele alternative Familienformen getreten. Wir verzeichnen heute eine steigende Zahl von gleichgeschlechtlichen Familien, von Stief- und Reproduktionsfamilien, von Familien nicht miteinander verheirateter Eltern und von Ein-Eltern-Familien. Auch sog. queere Familien, wo sich gleichgeschlechtliche Partner mit mindestens einer weiteren Person zusammentun, um ein Kind groß zu ziehen, werden heute in Deutschland gelebt. Die Folge dieser Entwicklungen ist, dass Kinder heute immer häufiger in alternative Familienformen hineingeboren werden und sich dadurch auch ganz neue Eltern-Kind-Konstellationen ergeben. Das Abstammungsrecht muss auch für diese Konstellationen angemessene Regelungen bereithalten.
Dass das geltende Recht die Lebenswirklichkeit nicht angemessen erfasst, will ich kurz am Beispiel der Elternschaft gleichgeschlechtlicher weiblicher Paare erläutern. Gemeint ist die Situation, dass zwei miteinander verheiratete Frauen ein Kind im Wege medizinisch-assistierter Reproduktion bekommen: Zwar ergibt sich nach geltendem Abstammungsrecht problemlos die Elternschaft der Frau, die das Kind zur Welt bringt, da § 1591 BGB die Mutterschaft an die Geburt knüpft. Die Partnerin der Geburtsmutter, die mit dieser in registrierter Lebenspartnerschaft bzw. in einer Ehe lebt, kan...