BVerfG, Beschl. v. 30.8.2023 – 1 BvR 1654/22

1. Bestellt das Gericht das Jugendamt als Amtsvormund für in der Ukraine möglicherweise durch Leihmutterschaft geborene Kinder und droht das Jugendamt nach dem konkreten Vortrag der betreuenden, ihre Mutterschaft behauptenden einzigen nahen Bezugsperson damit, die Kinder von ihr zu trennen, so verletzt die Entscheidung über die Bestellung des Jugendamts zum Vormund den Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn das Gericht das Vorbringen der Bezugsperson zu den Folgen einer drohenden Trennung für die Kinder nicht erwogen hat, obwohl diese im Verfahren auch auf die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 8 EMRK, insbesondere auf das Urteil des EGMR vom 24.1.2017 (Nr. 25358/12 – Paradiso and Campanelli v. Italien, dort insbesondere Absatz 215) hingewiesen hat, wonach die Gerichte bei einer Entscheidung über eine internationale Leihmutterschaftskonstellation im Rahmen der Abwägung der unterschiedlichen betroffenen Interessen das Wohl des Kindes im Fall einer Trennung zu beachten haben.

2. Die Entscheidung zur Auswahl des Jugendamts als Vormund beruht auf einer Verletzung des rechtlichen Gehörs, wenn mit der Bezugsperson eine nach der im Entscheidungszeitpunkt geltenden Vorschrift des § 1791b Abs. 1 S. 1 BGB a.F. vorrangig zu bestellende Person vorhanden ist. Zwar ist der fachrechtlich gewählte Ansatz, die Eignung der ihre Mutterschaft behauptenden Bezugsperson als Vormund wegen eines möglichen Interessengegensatzes zu verneinen, im Ausgangspunkt verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Es lässt sich aber nicht ausschließen, dass das Fachgericht bei der gebotenen Berücksichtigung und Erwägung des Kernvorbringens zu einer drohenden Herausnahme der Kinder aus dem Haushalt der Bezugsperson zu einer anderen Einschätzung der Eignung der betreuenden Bezugsperson gekommen wäre.

3. Bei der Auswahl des Vormunds nach dem jetzt geltenden § 1778 Abs. 2 BGB dürften ähnliche Gesichtspunkte zu berücksichtigen sein, die auch bereits bei der Entscheidung auf der Grundlage des außer Kraft getretenen § 1791b BGB von Bedeutung waren.

(red. LS)

OLG Saarbrücken, Beschl. v. 16.5.2023 – 6 UF 60/23

Hat das Kind seinen tatsächlichen Aufenthalt im Sinne des § 87c Abs. 3 S. 2 SGBVIII seit seiner Inobhutnahme in einer Jugendhilfeeinrichtung im Zuständigkeitsbereich eines Jugendamts, während sein gewöhnlicher Aufenthalt bei seinen Eltern in einem anderen Jugendamtsbezirk mangels absehbarer Rückkehrperspektive in der Folge der Inobhutnahme entfallen ist, so ist für die Pflegschaftszuständigkeit des Jugendamts der tatsächliche Aufenthalt des Kindes im Bezirk der Einrichtung maßgeblich, ohne dass dieser bereits zu seinem gewöhnlichen Aufenthalt geworden sein muss.

OLG Frankfurt, Beschl. v. 25.5.2023 – 6 UF 55/23

Ist das Jugendamt bereits als Ergänzungspfleger für ein Kind für Teilbereiche der Sorge bestellt, kann im Hinblick auf die Neufassung von § 1775 in Verbindung mit § 1813 Abs. 1 BGB ein Berufspfleger (§ 1774 Abs. 1 Nr. 2 BGB) für die Vertretung des Kindes in einem gegen seinen Vater geführten strafrechtlichen Ermittlungsverfahren auch dann nicht ausgewählt werden, wenn dieser geeigneter als das Jugendamt erscheint.

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