Dr. Susanne Offermann-Burckart
Eine Besonderheit ergibt sich bei der Frage nach der Möglichkeit eines tatbestandsausschließenden Einverständnisses seit kurzem durch die Neufassung von § 3 Abs. 2 S. 2 BORA. Diese Vorschrift, die auf die Beschlussfassung der Dritten Satzungsversammlung vom 7.11.2005 zurückgeht, bestimmt für "in derselben Berufsausübungs- oder Bürogemeinschaft gleich welcher Rechts- oder Organisationsform verbundene Rechtsanwälte", dass das Tätigkeitsverbot des § 3 Abs. 1 nicht gilt, "wenn sich im Einzelfall die betroffenen Mandanten in den widerstreitenden Mandaten nach umfassender Information mit der Vertretung ausdrücklich einverstanden erklärt haben und Belange der Rechtspflege nicht entgegenstehen". Information und Einverständniserklärung sollen dabei in Textform erfolgen (§ 3 Abs. 2 S. 3 BORA).
Anlass für die Neufassung war die berühmte Sozietätswechsler-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 3.7.2003. In dieser erklärte das Bundesverfassungsgericht den alten § 3 Abs. 2 BORA, wonach das Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen ausnahmslos auch für die Mitglieder von Sozietäten pp. galt, für verfassungswidrig. Die Satzungsversammlung hat als Reaktion hierauf die fast völlige Freigabe der Bearbeitung konträrer Mandate innerhalb von "Anwalts-Zusammenschlüssen" beschlossen. Denkbar ist danach also z.B. auch, dass Sozius A den Ehemann und Sozius B die Ehefrau im Scheidungsverfahren vertritt. Das einzige Regulativ sind nur noch die – bislang nicht näher definierten – "Belange der Rechtspflege", die einer solchen Handhabung nicht entgegenstehen dürfen.
Dass es in Zukunft außerordentlich schwer sein wird, mit dieser Vorschrift zu "richtigen" oder, besser gesagt, vertretbaren Ergebnissen zu gelangen, zeigt ein Blick in die Begründung, mit der die Bundesrechtsanwaltskammer die neue Norm an das Bundesjustizministerium übermittelt hat. In dieser Begründung wird u.a. nach der Art der betroffenen Mandate und der Struktur der beteiligten Kanzlei unterschieden. So seien "im Regelfall" der "schmutzige Scheidungskrieg" oder die Vertretung zu Lasten des anderen Beschuldigten nach wie vor innerhalb eines Büros nicht zulässig. Und ein widerstreitendes Beratungsmandat könne eher in räumlich verschiedenen Büros derselben Berufsausübungsgemeinschaft als im selben Büro geführt werden, in dem u.a. die Gefahr bestehe, dass ein "abendlicher Blick in die Faxeingänge" auf geheimhaltungsbedürftige Informationen falle. Die Neuregelung ist in der Literatur z.T. auf heftige Kritik gestoßen.
Für Einzelanwälte fehlt es an einer klarstellenden Regelung wie der des § 3 Abs. 2 S. 2 BORA, sodass es für sie bei dem im Vorhergehenden dargestellten Meinungsstreit verbleibt.
Die Novellierung schafft deshalb einige (auch dogmatische) Verwirrung, weil letztlich nicht einzusehen ist, warum zwei – vielleicht eng zusammenarbeitende – Sozien Parteien mit gegenläufigen Interessen vertreten dürfen, dem Einzelanwalt dies aber nach wie vor verwehrt ist. Grunewald verweist bei der Frage nach der Möglichkeit eines tatbestandsausschließenden Einverständnisses denn auch für den Einzelanwalt auf den neuen § 3 Abs. 2 BORA, weil es keine Rolle spielen könne, wie viele Rechtsanwälte aktiv würden.
Diese Argumentation, die auf den ersten Blick bestechend scheint, lässt sich natürlich auch ins Gegenteil verkehren, indem man folgert, dass dort, wo es an einer ausdrücklichen Regelung (und an dem Korrektiv eines Fehlens entgegenstehender Belange der Rechtspflege) fehlt, ein Einverständnis unerheblich ist. Das Bundesverfassungsgericht hatte bei seiner Entscheidung Großkanzleien mit chinese walls und mit sachkundiger Geschäftsklientel im Blick.
Fraglich ist, wann § 3 Abs. 2 S. 2 BORA überhaupt zur Anwendung kommt. Dass schon die enge Zusammenarbeit von Sozien per se zu der Annahme entgegenstehender Belange der Rechtspflege führt, wie es in der "amtlichen" Begründung anklingt, wird man nicht ernsthaft behaupten können.
Allerdings sind die an ein Einverständnis der Mandanten mit gegenläufigen Interessen zu stellenden Anforderungen (egal, ob das Einverständnis einem einzelnen Rechtsanwalt oder verschiedenen Mitgliedern einer Berufsausübungsgemeinschaft erteilt wird) hoch. Die Mandanten müssen nicht nur abstrakt erkennen, dass gegenläufige Interessen vorhanden sind oder zumindest vorhanden sein können, sie müssen außerdem begreifen, worin konkret der Interessenwiderstreit besteht, welche Handlungs- und rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten es gibt, und wie sehr sie sich in Wahl und Einsatz dieser Möglichkeiten einschränken, wenn sie auf die Vertretung durch einen eigenen Rechtsanwalt verzichten.
Schließlich dürfte selbstverständliche Voraussetzung für eine Anwendung von § 3 Abs. 2 S. 2 BORA außer der (schriftlichen) Einverständniserklärung der Mandanten nach hinreichender Aufklärung auch die Erteilung von Einzelmandaten an jeden der Sozien im Gegensatz zu der eines Mandats an die Kanzlei insgesamt sein. Vertritt also Sozius A die Partei 1 und Sozius B die Part...