Argiris Balomatis
Eine Ehe kann nur durch richterliche Entscheidung geschieden werden. Dieser Grundsatz prägt das deutsche Scheidungsrecht. Muss er jetzt hinterfragt werden? Richten wir unseren Blick ins europäische Ausland, so merken wir, dass mittlerweile 10 Staaten die Scheidung außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens zulassen.
Wie gehen wir also mit außergerichtlichen Scheidungen aus diesen Staaten um? Muss ein Anerkennungsverfahren durchlaufen werden? Gilt der Grundsatz des wechselseitigen Vertrauens auch für diese sog. Privatscheidungen? Der Begriff der "Entscheidung" ist in diesem Zusammenhang von zentraler Bedeutung. Der EuGH entschied in der Rechtsache TB (Az. C-646/20) am 15.11.2022 über die Frage, ob außergerichtliche Scheidungen unter Art. 17 EGBGB fallen und somit ein Anerkennungsverfahren nach § 107 FamFG durchlaufen müssen oder ob es sich um eine Entscheidung im Sinne des Art. 21 Abs. 1 Brüssel IIa-VO (jetzt Art. 30 Abs. 1 Brüssel IIb-VO) handelt.
Die Ehe der Deutsch-Italienerin TB und des Italieners RD war in 2018 nach Art. 12 des italienischen Gesetzes Nr. 132/2014 vor dem Standesamt Parma geschieden worden. TB wollte beim Standesamt Berlin-Mitte die Scheidung im dortigen Personenstandsregister eintragen zu lassen. Das Amtsgericht verlangte zunächst ein Anerkennungsverfahren. Das Kammergericht wies indes das Standesamt an, die Eintragung der italienischen Ehescheidung ins Eheregister nicht von der vorherigen Anerkennung abhängig zu machen. Im Rahmen der Rechtsbeschwerde legte der BGH den Rechtstreit dem EuGH vor (Beschl. v. 28.10.2020 – XII ZB 187/20).
Für Luxemburg ein klarer Fall: Eine von einem Standesbeamten errichtete Scheidungsurkunde, die eine Vereinbarung der Ehegatten über die Ehescheidung getreu den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats enthält, ist eine "Entscheidung" im Sinne des Art. 2 Ziff. 4 Brüssel IIa-VO.
Für unsere Praxis wird es damit einfacher. Außergerichtliche Ehescheidungen vor dem 1.8.2022 fallen unter Art. 21 Abs. 1 Brüssel IIa-VO. Für solche nach dem 1.8.2022 erfolgt eine "automatische Anerkennung" nach Art. 30 ff. bzw. Art. 64 ff. Brüssel IIb-VO. Doch schauen wir genauer hin.
Wurde die außergerichtliche Ehescheidung von einer öffentlichen Behörde oder unter deren Kontrolle ausgesprochen? Hat also die Behörde (i.d.R. das Standesamt) eine Kontroll- und letztlich Entscheidungsfunktion ausgeübt, ähnlich wie ein Gericht? Dann liegt eine quasi-richterliche Entscheidung vor, die in Anwendung des Grundsatzes des wechselseitigen Vertrauens innerhalb der Mitgliedstaaten anerkannt wird.
Führen wir den Gedanken weiter. Ist es denkbar, dass auch in Deutschland Standesbeamte mit Kontroll- und Entscheidungsfunktionen ausgestattet werden, um einvernehmliche Ehescheidungen auf Antrag eines oder beider Ehegatten auszusprechen? Lässt sich der Begriff der richterlichen Entscheidung in § 1564 S. 1 BGB so weit fassen, dass die Scheidung vor dem Standesamt auch hier zu Lande – womöglich ohne Gesetzesänderung – denkbar ist? Und wie verhält es sich mit den etwa in Spanien und Lettland üblichen "Notar-Scheidung"? Nach unserem Verständnis dürfte ein beurkundender Notar kaum (quasi-richterliche) Entscheidungs- und Kontrollfunktionen wahrnehmen. Der EuGH scheint jedoch zwischen dem deklaratorischen Handeln eines Notars und dem konstitutiven Handeln eines Standesbeamten nicht zu differenzieren. Das Kammergericht hatte dem EuGH auch den Fall einer spanischen Notarscheidung vorgelegt (Az. C-304/22). Unmittelbar nach dem Urteil i.S. TB teilte das KG mit, dass es das Vorabentscheidungsersuchen nicht aufrechterhalten möchte.
Ich bin nun gespannt, in welche Richtung sich der Begriff der richterlichen Entscheidung entwickeln wird. Die Europäisierung des Familienrechts geht jedenfalls munter weiter.
Autor: Argiris Balomatis
Argiris Balomatis, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Familienrecht, Tübingen
FF 4/2023, S. 133